2004-03:Morsleben: Stimmung in der Region (DDR)

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"Was die da machen, weiß keiner genau" (SPIEGEL, 1987)

von Antje Labza Es gäbe im Kreis Haldensleben "keine Aktionen bzw. Stimmungen und Meinungen gegen das Endlager für radioaktive Abfälle" - so schätzte das MfS die Stimmungslage der AnwohnerInnen am 25.06.1988 ein. Begründet wurde die Abschirmung und Bewachung des ERAM u.a. mit der Gefahr oppositioneller Handlungen "des politischen Untergrundes", drohenden Sabotageakten und "spektakulären Aktionen weltweit operierender Organisationen (Greenpeace)", Spionage durch den westdeutschen "Klassenfeind" und nicht zuletzt mit Angst vor terroristischen Attentaten; eine Befürchtung, die heute aktueller denn je scheint.

Grenznähe - Westdeutsche Befürchtungen und ostdeutsche Ängste

Der Ort Morsleben und das zugehörige Endlager lagen in der von der "Verordnung zum Schutz der Staatsgrenze der DDR" so klassifizierten "Sperrzone", nur 1 km von der sog. "Staatsgrenze West" und 5 km von Helmstedt (Niedersachsen) entfernt. Diese Grenznähe bedeutete zweierlei: Erstens ein dringendes Interesse der BRD an Informationen über das ERAM, denn natürlich befürchteten westdeutsche UmweltschützerInnen, PolitikerInnen und BürgerInnen der Region Umweltbelastungen auch in ihrem Teil Deutschlands (z.B. Kontamination des Wassers). Der Stadtrat Helmstedt z.B. hielt zwecks Informationsbeschaffung dauerhaft Kontakt mit dem BMI und dem BMU, die Bundesregierung selbst bat wiederholt (so z.B. durch ihren "ständigen Vertreter" in der DDR Gaus am 25.09.1980 und Bölling am 23.07.1981) um bilaterale Gespräche über Morsleben und bot ihrerseits Informationen über das Endlager Gorleben an. Ein niedersächsischer Bundestagsabgeordneter wandte sich 1987 in diversen Briefen mit besorgten Fragen zu Sicherheitsstandards und möglicher Umweltbelastung direkt an Erich Honecker. Die westdeutsche Presse verglich bereits 1979 Gorleben mit Morsleben. Und 1987 titelte der Spiegel in einem Bericht über das ERAM "Was die da machen, weiß keiner genau" (Spiegel, Nr. 32/87, S. 69); eine Darstellung angesichts derer die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Magdeburg am 04.11.1987 befürchtete, dass "exponierte feindliche Kräfte des Bezirks mit überregionalen Verbindungen im Rahmen der politischen Untergrundtätigkeit diese Veröffentlichung zur Beeinflussung der Bevölkerung benutzen könnten". Zweitens bedeutete die Grenzlage ein besonders umfangreiches Paket an Sicherungsmaßnahmen seitens der DDR. Das MfS (v.a. die Hauptabteilung XVIII/5 mit ihrem Aufgabengebiet "Kernanlagenschutz") überwachte sowohl das Betriebspersonal des ERAM und Mitarbeiter des SAAS als auch "wesentliche Stimmungen und Meinungen im Grenzgebiet". Halbjährlich erfolgte durch die hiesigen Grenztruppen eine "Kontrolle der Sicherheit und Ordnung" im ERAM. In Morsleben selbst waren Einheiten der NVA - Grenzer stationiert. Wie im gesamten Grenzgebiet galt auch hier, "den Forderungen zur Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit und der Sicherheit der Staatsgrenze sind alle anderen Fragen im Sperrgebiet unterzuordnen". So mussten z.B. sämtliche am geplanten Transport von 2500 Fässern niedrigaktiven Atommülls beteiligte Personen in Listen registriert werden, Passierscheine für das Grenzgebiet erhalten und sich einer Belehrung "über das Verhalten im Grenzgebiet" unterziehen. Die DDR - Behörden befürchteten sowohl unbefugte Grenzübertritte ("Republikflucht"), als auch direkte "Provokation" und "Agententätigkeit" durch den westdeutschen "Gegner". Daher beschloss etwa der Rat des Kreises Haldensleben am 29.01.1975 aufgrund einer Direktive des ZK der SED vom 28.10.1971 "die differenzierte und systematische politisch ideologische Arbeit mit allen Bürgern des Grenzgebietes" fortzuführen. So sollte die Grenzbevölkerung, die tagtäglich einem "besonders scharfen Klassenkampf ausgesetzt" seien, gegen westliche Propaganda immunisiert und ihre Bejahung der Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR garantiert werden. Widerstand gegen ein Endlager für radioaktive Abfälle wäre gerade im Grenzgebiet als äußerst gefährliche, politische Destabilisierung erschienen.

Informationspolitik und Ideologie

Schon vor Inbetriebnahme des ERAM betonte am 01.08.1969 der Präsident des SAAS, Professor Sitzlack, in einem Schreiben an den Minister für Kohle und Energie (MKE), Siebold, die "überragende perspektivische Bedeutung der sicheren Beseitigung der radioaktiven Abprodukte (...) auch für die sozialistische Landeskultur". An den Nachfolger Siebolds schrieb Sitzlack 12 Jahre später (1981), das ERAM sei "im internationalen Vergleich eine beispielhafte Lösung", die sich eigne "die rechtzeitige und planmäßige Vorsorge und das Niveau des Schutzes im sozialistischen Staat zu demonstrieren". Das ERAM als Symbol des sozialistischen Fortschritts und Bestandteil der friedlichen Nutzung der Kernenergie (hier distanzierte sich die DDR deutlich von der als militärisch dominiert bezeichneten Kernenergienutzung des "imperialistischen Westens") spielte auch bei den raren öffentlichen Erwähnungen des ERAM eine Rolle. Eine Darstellung aus dem Jahre 1972 sah das ERAM als "wichtiges Vorhaben auf dem Gebiet des Umweltschutzes für die gesamte DDR und die kernenergienutzenden RGW - Mitgliedsländer": die DDR präsentierte ein Vorzeigelager, das der Legende von der "sauberen Atomenergie" entsprach und im Ostblock als "Modellfall" der Atommüllentsorgung galt.

Auskunft über das ERAM musste die DDR bedingt durch ihre Mitarbeit in der IAEA erteilen, was stets Genehmigungen der Texte durch höhere Stellen voraussetzte. So bat der Präsident des SAAS, Professor Sitzlack, um die Zustimmung, das ERAM als Delegationsleiter auf der 22. IAEA Generalkonferenz 1978 durch eine "allgemein gehaltene Formulierung" international vorstellen zu dürfen (der RGW hatte bereits eine interne Information über den Betrieb des ERAM erhalten). Aussagen, Publikationen und andere Erwähnungen des ERAM stimmte das SAAS u.a. mit dem MKE ab. Eine klare Linie schien es dabei nicht zu geben, eher wurden Einzelfallentscheidungen getroffen. Der MKE intervenierte des öfteren gegen ihm zu detailliert erscheinende Vorträge oder "politisch unüberlegte und unqualifizierte Formulierungen" in Reden und Schriften. Aber auch das SAAS lehnte Redeskripte, westdeutsche Interviewwünsche und Bitten um bilaterale Konsultationen ab. Die Auskünfte in der IAEA seien ausreichend. Ferner sei "die politische Brisanz dieser Fragen" geeignet, den "Angriffen westlicher Massenmedien Vorschub" zu leisten. Besuche von Personen aus dem NSW seien aufgrund der Grenzlage des ERAM nicht möglich - darin stimmten MKE und SAAS überein. Einer entsprechenden Anordnung Erich Honeckers vom 08.06. 1979 folgend sollte das ERAM nicht mehr in Publikationen und selbst in der internationalen Zusammenarbeit im Rahmen der IAEA auftauchen. Irritationen, die durch westdeutsche Medienberichte ausgelöst worden waren, mögen mit ein Grund für die Anordnung Honeckers gewesen sein. Andererseits wurden bereits 1976 Verhandlungen mit westdeutschen Firmen über die Abnahme und Einlagerung von atomaren Abprodukten geführt, wobei sorgfältig abgewogen wurde, wie viel Einblick den westdeutschen Kunden gewährt werden könne, ohne eventuell versuchter Spionage Vorschub zu leisten. Eine systematische Information der hiesigen Bevölkerung war nicht vorgesehen. Nur bei gefährlicher Gerüchtezunahme und Diskussionen um die Sicherheit wie 1987 in Beendorf wurde eingegriffen: auf einer Versammlung wurde den BürgerInnen versichert, was auch den westlichen PolitikerInnen versichert wurde: es gingen keine Gefahren für die Umwelt aus. Am 15./16.10.1988 erschien endlich ein Artikel im Neuen Deutschland über den Betrieb des ERAM, 17 Jahre nach Beginn der ersten Einlagerungen.

Dieser Text ist Teil der Ausstellung zum Endlager Morsleben. Sie ist mindestens bis Ende November dieses Jahres noch in der Blutbank des Uniklinikum Magdeburg zu sehen.