2005-01:Herrschaftsverhältnisse in der Tabakwelt

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Herrschaftsverhältnisse in der Tabakwelt

von Jörg Bergstedt


Wer die Herrschaftsbrille aufsetzt und mit ihrer Hilfe nach Unterdrückungsverhältnissen, Ungleich-berechtigungen, Abhängigkeiten und mehr sucht, wird in allen Bereichen aktueller menschlicher Gesellschaft fündig werden. Klar ist, dass auch Tabak kein Spezialfall, sondern ein Beispiel für das Wirken von Herrschaft unter vielen ist. Das aber gilt schlicht für alle Bereiche und kann folglich kein Grund sein, eine Analyse zu unterlassen.


Außerdem gibt es spezifische Formen, aus denen sich ableiten lässt: Wie vieles andere auch ist der Tabakanbau, -handel und -konsum ein deutliches Kapitel einer unmenschlichen Welt. Abgesehen davon, dass die diskursive Herrschaft - also subtiles Beeinflussen des Handelns über Diskurse, Normen und Werte - auch in der Tabakwelt allgegenwärtig ist, gibt es eine Menge weiterer Ausprägungen von Herrschaft auch in diesem Bereich. Ein Blick auf all das sollte zu einer Auseinandersetzung mit der Tabakthematik dazugehören.


Kolonialverhältnisse in den Agrarregionen


Die in den früheren Kolonien praktizierten Abhängigkeitsverhältnisse zwingen die AnbauerInnen von "Cashcrops" wie Tabak zur allumfassenden Bindung an jeweils eine oder nur wenige Firmen mit monopolartigen Strukturen. Nur dorthin dürfen sie ihre Produkte verkaufen und nur von dort dürfen sie Dünger, Chemikalien, Saatgut und Technik beziehen. Auch Kredite sind oft an diese Abnehmerfirmen gebunden.


So haben die TabakbäuerInnen keine Wahlmöglich-keiten. Sie müssen den Tabak anbauen und ihn zu den aufdiktierten Preisen verkaufen, da sie sonst die mittlerweile aufgehäuften Schulden sofort abzahlen müssten. Ihre Abhängigkeit steigert sich ständig, da die Preise immer zu ihrem Nachteil gemacht werden und der Teufelskreis aus Schulden, Knebelverträgen und Abhängigkeiten immer engere Kreise zieht...


Viele Regionen könnten sich mit ihrer Landwirt-schaft fast oder sogar völlig selbst versorgen. Durch die erzwungenen und/oder ständig verschärften Verträge vieler BäuerInnen mit den Monopolunter-nehmen und internationalen Organisationen sowie deren Einflussnahme auf die Politik der Regierungen entsteht die absurde Situation, dass Cashcrops, von denen die Menschen nicht leben können, angebaut werden, während Nahrungsmittel gar nicht selbst produziert werden.


Lohnarbeitsverhältnisse schaffen Machtgefälle


Die Entwicklungen in der reichen BRD machen selbst für weniger herrschaftskritische Menschen deutlich, dass Lohnarbeit an sich ein Machtverhältnis ist. Das wird sie nicht erst, wenn die Löhne den Lebensstandard nicht mehr decken können, noch mehr gearbeitet werden muss oder jegliche Anweisungen erfüllt werden müssen, um den Job nicht zu gefährden. Sondern das Machtgefälle besteht auch dann, wenn die ArbeiterInnen einen "fairen" Lohn erhalten, denn um diesen müssen auch sie ständig fürchten und bleiben so beliebig erpressbar. Profitlogik ist anders gar nicht denkbar. Selbst der gutwilligste Chef sitzt letztlich, wenn es hart auf hart kommt, am längeren Hebel und wird im Sinne seiner eigenen oder der Un-ternehmensinteressen entscheiden - Gleichberechtigung gibt es zwischen ArbeitgeberInnen und Arbeit-nehmerInnen strukturell nicht.


Sogar die kleinen alternativen Betriebe, die sich selbst verwalten, sind nicht selbstbestimmt. Ob Menschen von einem Chef oder sich selbst zur Arbeit genötigt werden, macht nur einen internen Unterschied. Solange alternative Betriebe in einer marktförmigen Gesellschaft bestehen wollen, unterliegen und reproduzieren sie Herrschaftsverhältnisse, vor allem in Form der Marktgesetze und des Zwangs zur profitablen Orientierung ihres Betriebes und Arbeitsablaufes.


Die Umweltzerstörungen durch Anbau und Weiterverarbeitung sind ein weiterer herrschaftsdurchdrungener Ort. Regelmäßig legen Obrigkeiten per Gesetz oder Waffengewalt fest, was wo erlaubt ist und was Menschen an Umweltbelastung ertragen müssen. Eine Selbstbestimmung gibt es im Umweltschutz kaum, es wird auch von Umwelt-NGOs gar nicht angestrebt. Mit Forderungen nach schärferen Gesetzen schaffen viele Umweltschutzgruppen sogar eine neue Akzeptanz für den starken Staat, der seine Stärke aber regelmäßig für die eigenen, für Profit- und Standortinteressen einsetzt. An den Bedürfnissen der jeweils betroffenen Menschen geht das meist vorbei.


Tabakkonsum: Abhängigkeit ist fremdbestimmt


Zu zwanghaften Handlungen beim Menschen kommt oft der psychologische Abwehrmechanismus, mit dem sich die betroffene Person gegen die Erkenntnis der Abhängigkeit zu wehren versucht. Beim Konsum von Tabak, d.h. einem abhängigmachenden Stoff, handelt es sich schon von der Wirkung der Suchtstoffe her zumindest in diesem Punkt um eine fremdbestimmte Sache. Auch wenn das Bedürfnis nach der Zigarette aus dem Inneren zu kommen scheint und Tabakwerbung das gezielt suggeriert, hat die abhängige RaucherIn keine freie Entscheidung mehr, ob sie raucht.

Zumindest ist das "Aufhören" jedoch mit erheblichen Unannehmlichkeiten verbunden. Das Rauchen einer Zigarette ist immer auch die Reaktion auf ein körperliches Unwohlsein, ein Mangelempfinden u.ä., das bei nachlassender Wirkung des Rauchens vorher entsteht. Da Rauchen also in Vielem die Behebung eines Mangelgefühls ist, kann Rauchen auch als Versuch beschrieben werden, einen körperlichen Zustand zu erreichen, den einE NichtraucherIn ohnehin hat - zumindest in Bezug auf die Wirkung des Tabaks und den Entzug der Suchtstoffe.


Das Bedürfnis nach Tabak und vielem anderen wird auch von der Werbewirtschaft und durch Diskurse geschaffen. Wo Verhaltens- und Denkmuster unkritisch übernommen werden oder die Werbung das Handeln beeinflusst, herrscht keine Selbstbestimmung. Bei Medien und Werbefirmen bzw. deren Auftragge-berInnen handelt es sich regelmäßig um Interessen-gruppen, die ihre Macht nutzen um diese Interessen durchzusetzen - oder in Abhängigkeit von anderen stehen bzw. in deren Auftrag handeln.


Fremdbestimmung von NichtraucherInnen


Ein in den politischen Diskussionen oft unangenehmes Thema ist das Zwangsmoment des Mitrauchens, also der üblichen Verhaltensweise von RaucherInnen gegenüber anderen. Verklärt als ein Aufdrücken fremden Willens werden vielfach Forderungen nach Rücksichtnahme ignoriert. Den Leuten, die gerade nicht rauchen wollen, sei es weil sie keinen Bock auf Gesundheitsschädigungen oder eben gerade keine Lust darauf haben, wird die Folge der eigenen Entscheidung aufgezwängt.

Gerade in der sich gern als herrschaftskritisch begreifenden linken Szene ist diese Verhaltensweise oft anzutreffen. Herrschaftsanalytisch ist Rauchen in vielen Fällen die Umsetzung der strukturellen Gewalt von Umweltzerstörung durch Staat und Wirtschaft. Dort müssen im Großen Menschen die Folgen der Interessensbefriedigung von Regierungen, Unternehmen, Eliten oder Mehrheiten ertragen, da Herr-schaft bedeutet, die Wirkungen des eigenen Han-delns auf andere abwälzen zu können. Das geschieht auch beim Rauchen, wenn andere zum Passivrauchen gezwungen oder dadurch eingeschränkt sind ohne jegliche Vereinbarung.


Es wäre eine Sache, ob jemand für sich entscheidet, dass ihm/ihr die Gesundheitsrisiken nicht (so) wichtig sind bzw. ob jemand das alles außen vor lässt, weil er/sie gerade nur genießen will. Eine ganz andere Sache aber ist es, wenn diese Entscheidung auch andere betrifft, die sich zum Beispiel im gleichen Raum aufhalten. Diese werden so genötigt, sich dem Qualm auszusetzen oder den Raum zu verlassen.


Ob es sich bei den entgegengesetzten Interessen um gleichwertige Anliegen handelt, entscheidet sich danach, ob tatsächlich über das Rauchen freie Vereinbarungen getroffen werden oder ob Regeln, Dominanzen, subtiler Druck usw. im Spiel sind. Leider ist regelmäßig zu beobachten, dass Rauchen als Status Quo oder besonderes Recht gegenüber anderen privilegiert ist.


Gesellschaftliche Rahmenbedingungen


Ein selbstbestimmtes Leben ist in einer herrschaftlich ausgerichteten Gesellschaft nie vollständig möglich. Solange es Gesetze gibt und Repressionsapparate um diese durchzusetzen, solange nicht alle Menschen die gleichen Möglichkeiten haben, wirkt Herrschaft und damit Fremdbestimmung.

Um sich frei entfalten und tatsächlich selbstbestimmt leben zu können, bedarf es Rahmenbedingungen, die Kooperation statt Konkurrenz fördern. Die Freiheit und tatsächliche Möglichkeit zur Selbstorganisierung und zur Selbstbestimmung über Umwelt und Produktionsverhältnisse gehören dazu.

Andere Herrschaftsformen würden jedoch auch unter solchen Verhältnissen verbleiben, vor allem subtilere wie Rollenverhalten, Erwartungsdruck, Normierungen im Denken usw. Sie würden immer wieder auftreten, müssen also ebenfalls kritisch reflektiert und überwunden werden. Eine horizontale Kommunikation ist die Basis für ein weiterentwickeltes herrschaftsfreies Leben. Solche konkreten Utopien bedeuten nicht das Paradies, aber die Chance auf ein besseres und selbstbestimmteres Leben wäre wesentlich höher als unter den jetzigen Umständen.


"Guter" Tabak?


Bei der Auseinandersetzung mit den Tabakaspekten wurde immer wieder nach akzeptablen Zigarettenmarken oder Anbauformen gefragt. Solche Überlegungen sind grundsätzlich akzeptabel, wenn als Ziel bleibt, Schritte zu einer Steigerung von Selbstbestimmung und Gleichberechtigung zu finden. Die Stärkung staatlicher Sphären ist dafür ein untaugliches Mittel und sollte aus dem Forderungskatalog von NichtraucherInnengruppen, Umwelt-NGOs usw. schleunigst gestrichen werden. Zudem muss klar sein, dass auch bei "gutem" Tabak weiter Probleme bestehen bleiben:


1. Für Untersuchungen der Auswirkungen von Tabakkonsum auf die Gesundheit werden unsinnige (weil wenig aussagekräftige) und die betroffenen Lebewesen verachtende Tierversuche geführt.


2. Mit der Tabaksteuer werden direkt Überwachungsstaat (Abbau von ohnehin unzureichenden Schutzrechten gegenüber dem Staat; Repression gegen kritische Menschen) und Militäreinsätze bezahlt. Rauchen ist also eine Bezahlung des Staates und antiemanzipatorischer Projekte.


3. Intensiv angebaute Pflanzen (auch Tabak) bedeuten immer Umweltzerstörungen; hier ist Tabak kein Sonderfall - für andere Sorten gilt das ebenfalls. In einigen Ländern (siehe Miombo-Urwaldvernichtung) handelt es sich sogar um extreme Umweltprobleme.


4. Beim Tabakanbau werden, wie bei anderen landwirtschaftlichen Produkten auch, ArbeiterInnen in der "3. Welt" ausgebeutet: arbeiten für wenig Geld, haben kaum eine Wahl, werden von der Industrie immer abhängiger, unter nicht einmal den hiesigen Gesundheitsschutz-Bestimmungen entsprechenden Bedingungen muss gearbeitet werden, Lebensgrundlage wird zerstört, überwiegend weiße Eigentü-merInnen und westliche Konzerne sind die MachthaberInnen über die ArbeiterInnen vor Ort.


5. Rechte "Connections" von Tabakkonzernen sind symptomatisch für die kapitalistische Gesellschaft (Tabak ist kein Spezialfall); der Profit dieser Konzerne unterstützt indirekt auch viele rechte Organisationen (in den USA beispielsweise die rechte NRA durch den Philipp Morris-Konzern).


6. Medien- und Werbeindustrie haben wesentlichen Anteil am Bedürfnis nach Tabak, das ist eine Form der Machtausübung auf Menschen.


7. Ca. 50% der RaucherInnen leben durchschnittlich zehn Jahre weniger. Rauchen erzeugt schwerwiegende Erkrankungen, deren statistische Bedeutung an zweiter Stelle nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen liegt. Wäre da nicht die diskursive Herrschaft über Normierung, Werbemanipulation und Gruppenzwang (aber nicht nur die), könnten Menschen individuell für sich einschätzen, ob sie das Risiko tragen wollen, wenn die NichtraucherInnen nicht in ihrer Gesundheit durch den Konsum anderer gefährdet würden. Insgesamt ist Rauchen heute eine Entscheidung, die nicht nur persönliche Auswirkungen hat.


Um diese Probleme zu lösen, ist ökologisch und fair angebauter Tabak nur eine minimale Teillösung. Denn Werbeeinflüsse erschweren freie Entscheidung über die Inkaufnahme der Gesundheitsrisiken, Tabaksteuer gibt es weiter etc.


Selbst angebauter Tabak würde eine ausreichend starke Motivation der RaucherInnen und eine bewusste Entscheidung dafür zugrunde haben. Auch die Umweltauswirkungen wären durch geringere Anbaumengen niedriger. Das Ausbeutungsargument würde in diesem Fall nicht zutreffen. Die Auswirkungen der Tabaksteuer würden umgangen werden.

Aber: werbewirtschaftliche und gesellschaftliche Verhältnisse (diskursive Herrschaft) wirken auch dann weiter. Letztlich kann mensch nie wirklich frei entscheiden, denn das soziale Umfeld prägt immer. Aber solange die benannten, besonders einfach zu Manipulation und Interessenspolitik nutzbaren Mechanismen herrschen, ist die freie Entscheidung sehr stark eingeschränkt bis unmöglich.


Antiemanzipatorische Forderungen


Leider stellen die meisten der Rauchfrei-, Anti-Tabak- und Gesundheitsinitiativen eher antiemanzipatorische Forderungen. Oft wird nach Verboten und hartem Durchgreifen gerufen. Handelnde sollen Autoritätspersonen oder -strukturen sein, Ziel in der Regel Personen, die sich - z.B. auf dem Schulhof - nicht an Rauchverbote halten. Solche Forderungs-kataloge schaffen weniger Freiheit, statt Spielräume für selbstbestimmtes Leben zu eröffnen.

Soll ein Verbot, also eine Festlegung von oben, Sinn machen, muss es auch Durchsetzungsmittel, sprich Repressionsapparate, geben. Das ist antiemanzipatorisch und stärkt die Pyramide der Macht. Gegenbild wären Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Menschen frei und selbstbestimmt über ihr Handeln entscheiden können. Das setzt den Zugang zu Informationen, die Freiheit im Handeln, horizontale Kommunikation, gleichberechtigte Möglichkei-ten und einen reflektierten gesellschaftlichen Umgang voraus.


Diskussionswert ist es, ob bestimmte Verbote - zum Beispiel von Tabakwerbung - einen emanzipatorischen Ansatz haben, weil sie das Ausüben von Machtmitteln gegenüber den Menschen Mächtigerer einschränken können. Allerdings bleibt zu berücksichtigen, dass auch hier ein Durchsetzungsmechanismus genutzt wird und dass damit das System, das unseren von Herrschaftsverhältnissen geprägten Alltag repräsentiert, legitimiert wird.


Jede Reform muss also nicht nur darauf untersucht werden, ob sie in der Sache nützlich ist, sondern auch darauf, wieweit sie als Kehrseite Formen von Herrschaft und Ausbeutung unterstützt oder die entsprechenden Strukturen legitimiert. Anbau, Handel und Konsum von Tabak sind dafür nur ein Beispiel, die Logik gilt immer.