2014-03:psychiatrie geschichte

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Kontinuitäten der (Zwangs-)psychiatrie

Der folgende Text stammt aus der Einleitung zu „Kontinuitäten der (Zwangs-)Psychiatrie. Eine kritische Betrachtung“ von Alice Halmi aus dem Jahr 2008. Die gesamte Arbeit steht unter [1].
Der psychiatrische Blick und die damit einhergehende Entmenschlichung ist die Grundlage für die Grausamkeiten, die an Menschen begangen werden, die, je nach dem der jeweiligen Epoche entsprechenden Sprachgebrauch, als „Irre”, „Minderwertige” oder „psychisch Kranke” bezeichnet werden. Zum selektierenden und abwertenden Blick von Ärzten auf Andere und dem Herrschafts- und Machtverhältnis, das sich darin offenbart, sei an den berüchtigten „Pannwitz-Blick”, den der jüdische Schriftsteller und Chemiker Primo Levi in Auschwitz gesehen hatte, erinnert. In seinem Buch „Ist das ein Mensch” beschreibt er, wie er von Dr. Pannwitz, dem Chef der chemischen Abteilung von Auschwitz, ausgefragt und „begutachtet” wird:

Levi war Chemiker von Beruf. Eine Arbeit der chemischen Abteilung könnte ihn vielleicht vor der Vernichtung bewahren. Als er in seiner KZ-Uniform auf der anderen Seite des Schreibtisches stand, sah Dr. Pannwitz ihn an, als blicke er auf einen Fisch im Aquarium. So war Primo Levi noch nie von jemandem angesehen worden - und er hat die Bedeutung dieses Blickes nie vergessen. Hier fand eine Begegnung zweier Menschen statt, als sei sie die zweier Gattungen.”1 In dem Blick von Pannwitz las er: „Dieses Dingsda vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es, festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist.2 [...]

Die Psychiatrie als Institution im heutigen Sinne, als selbsternannter selbstständiger „Wissenschaftszweig” und als Weltbild, ist im 18. Jahrhundert entstanden. Dass sie als „Naturwissenschaft” anerkannt wurde, entwickelte sich parallel mit der sogenannten „Aufklärung” und der hohen Bewertung der „Vernunft”. Des Weiteren spielt der zu dieser Zeit aufkommende Kapitalismus bis heute ebenso eine wesentliche Rolle für die (Entwicklung der) Psychiatrie. Die soziale Funktion der Psychiatrie und die Motive für ihre (Gewalt-) Ausübung sind bis heute im Kern dieselben geblieben. Sie variieren lediglich in ihren praktischen Ausformungen jeweils im historischen Kontext.

Das grundlegende Element der (Zwangs-) Psychiatrie ist und war zu allen Zeiten die sogenannte „Diagnose” (wie z.B. „Schizophrenie” oder „paranoide Psychose”) bzw. die Etikettierung als „geistig krank” und die damit einhergehende Bewertung als „nicht einsichtsfähige” und „nicht einwilligungsfähige” Person, die angeblich für sich keine Verantwortung mehr übernehmen könne. Die Diagnose selber wird auch ohne Einwilligung der Betroffenen gestellt. Die psychiatrische „Diagnose“ ist die Voraussetzung für die Ausübung von Zwangsmaßnahmen und Entmündigung und diente den Nazis ebenfalls als Selektionsmittel zum Mord. Einmal „diagnostiziert”, aktenkundig geworden und somit in das psychiatrisch-staatliche System geraten, sind Betroffene der Bedrohung durch jahrelange Verfolgung durch (gemeinde-) psychiatrische Institutionen und Behörden ausgesetzt.

Vorab dazu noch ein bis heute gültiges Zitat von Thomas Szasz (vgl. Kapitel 2) aus „Interview with Thomas Szasz” in „The New Physician”, aus dem Jahr 1969:
,Schizophrenie' ist ein strategisches Etikett, wie es ,Jude' im Nazi-Deutschland war. Wenn man Menschen aus der sozialen Ordnung ausgrenzen will, muss man dies vor anderen, aber insbesondere vor einem selbst rechtfertigen. Also entwirft man eine rechtfertigende Redewendung. Dies ist der Punkt, um den es bei all den hässlichen psychiatrischen Vokabeln geht: Sie sind rechtfertigende Redewendungen, eine etikettierende Verpackung für ,Müll'; sie bedeuten ,nimm ihn weg', ,schaff ihn mir aus den Augen', etc. Dies bedeutete das Wort ,Jude' in Nazi-Deutschland, gemeint war keine Person mit einer bestimmten religiösen Überzeugung. Es bedeutete ,Ungeziefer', ,vergas es'. Ich fürchte, dass ,schizophren' und ,sozial kranke Persönlichkeit' und viele andere psychiatrisch diagnostische Fachbegriffe genau den gleichen Sachverhalt bezeichnen; sie bedeuten ,menschlicher Abfall', ,nimm ihn weg', ,schaff ihn mir aus den Augen'.3

Das heißt, die Gemeinsamkeit zwischen psychiatrischer Sichtweise und Antisemitismus und auch Rassismus besteht in der zielgerichteten Unterscheidung von Menschen als „andersartig” und der damit verbundenen Abwertung, Aussonderung und im schlimmsten Falle auch Vernichtung. Die Betroffenen haben gemeinsam, sozial unerwünschte Personen zu sein. Umgekehrt erfüllt die Psychiatrie und ihre Ideologie dieselbe Funktion wie die rassistische Ideologie, nämlich die der sozialen Kontrolle und Legitimation für Herrschafts- und Gewaltausübung für wirtschaftliche oder nationale Zwecke. [...]

Die psychiatrische Ideologie und der damit verbundene Blick, mit dem Menschen zu `Untermenschen' gemacht werden, war die Voraussetzung für nationalsozialistische Verbrechen wie Zwangssterilisation und dem systematischen Massenmord an PsychiatrieinsassInnen und denjenigen, die als „Asoziale”, „Trinker” und „Kriminelle”, galten, an Homosexuellen, an „Epileptikern” und an angeblich körperlich „Behinderten” oder kranken Menschen. Die Begründung war, sie seien „erbkrank” und sie oder ihr Leben sei „lebensunwert”. Die NS-Verbrechen steigerten sich von Zwangssterilisation bis zur Ermordung in den Gaskammern der psychiatrischen Anstalten, Verhungernlassen oder der Ermordung durch Giftspritzen. Darüber hinaus bildete die Ermordung von PsychiatrieinsassInnen ihrerseits eine Voraussetzung für den systematischen Massenmord an Juden, Sinti, Roma und Anderen in den Gaskammern der NS-Vernichtungslager. [...]

Der systematische Massenmord ist als trauriger Höhepunkt in der Geschichte der Psychiatrie anzusehen. Doch das psychiatrische Denken, die Klassifikation von Menschen nach angeblichen „Geisteskrankheiten”, die Ausgrenzung und die grausame (und bis heute auf kurz oder lang nicht selten tödliche) Behandlung durch die Psychiatrie, so wie „rassistisches” Denken und der Antisemitismus (bzw. Antijudaismus), waren ebenso wenig eine Erfindung der Nationalsozialisten, als dass sie mit ihnen 1945 verschwunden wären. Die grausamen und brutalen Methoden der traditionellen Psychiatrie, d.h. die ersten „Therapie”- Formen, auf die aufgrund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit nur hingewiesen werden kann, lassen sich kaum von den berüchtigten Foltermethoden in den Kerkern des europäischen Mittelalters unterscheiden. Die „traditionelle” psychiatrische Behandlung zielte auf eine „Heilung” ab, die „primär durch das Hervorrufen von Schmerzempfindungen und Ekelgefühlen sowie durch Ausschaltung des Willens eingeleitet und vollbracht werden soll”.7

Einige der traditionellen Methoden wie Fesselung und Einsperrung sind bis heute aktuell, sie werden lediglich in „reformierten” Formen praktiziert. So wurden aus der Ankettung und den Käfigen die „Befreiung” durch die Zwangsjacke und schließlich die „Fixierung” ans Bett oder auch Isolierräume, und aus den Irrenhäusern und Narrenschiffen wurden zunächst Heil- und Pflegeanstalten und dann moderne Krankenhausabteilungen. Auf traditionelle „Therapien” wie Rotationsmaschinen, Aufhängung, Klitorisentfernung, Verbrennungen, Kälte- oder Wärmefolter hingegen, sahen die späteren PsychiaterInnen mit einem „Schmunzeln”8 herab und es setzten sich dann im 20. Jahrhundert, als wissenschaftlich gepriesene Behandlungsmethoden, zunächst Ende der 20er und in den 30er Jahren diverse Formen der Schock-„Therapien” wie Insulin-, Krampfgift- und der bis heute noch, auch zwangsweise angewandte, Elektroschock und die, ebenfalls heute noch angewandte, operative Zerstörung des Gehirns (Lobotomie) und schließlich ab den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die heute massenhaft angewandte „Behandlung” mit psychiatrischen Psychopharmaka durch.9 Die durch die Psychopharmaka ausgelöste „chemische Revolution” ermöglichte es der Psychiatrie - gepaart mit (nach wie vor) pseudowissenschaftlicher Propaganda, mit scheinbaren Reformen wie der Psychiatrie- Enquete 1975 in Deutschland und dem Eindringen (bzw. auch, wie mit Blick auf die NS-Psychiatrie zu erkennen ist, dem Verbleiben) der sogenannten „Sozialpsychiatrie” in sämtliche(n) Bereiche(n) der Gesellschaft - weiterhin ungestört „Behandlungsmethoden” zu verwenden, die schwere Schädigungen und Leiden bei den Betroffenen auslösen. Auch aufgrund der Beschaffenheit der psychiatrischen Drogen gelang es, den erwünschten Effekt der inneren Knebelung und geistigen Blockade der Betroffenen - welche die mechanische Knebelung ablöste - zu erzielen, ohne dass diese Umstände seitens der Mehrheit öffentlich als solche anerkannt und abgelehnt werden. Trotz der Verdrängung der Kritik durch den herrschenden Diskurs seitens der Ärzteschaft, Pharmaindustrie und Anderen, gibt es zahlreiche Veröffentlichungen zum Nachweis der durch Psychopharmaka und Elektroschocks herbeigeführten (gegebenenfalls irreversiblen) körperlichen Schäden und schweren Beeinträchtigungen des Geistes bzw. Intellektes. Auf diese kann aufgrund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit ebenfalls nicht näher eingegangen werden. Ebenso wird der Kampf der GegnerInnen gegen die beinahe allmächtige Psychiatrie nur punktuell im Kontext der hier näher erörterten Themen angesprochen und spiegelt sich in der von mir verwendeten Literatur wieder, die vielfach aus „antipsychiatrischen” Quellen, vor allem aus Publikationen der Irren-Offensive e.V. bzw. dem Umfeld des Werner-Fuß-Zentrums in Berlin stammt.10 Eine Psychiatriekritik, die sich an den mittlerweile in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen 1948 verankerten oder zumindest durch sie in die Diskussion gebrachten Menschenrechten orientiert, muss sich (aber) in erster Linie gegen die Menschenrechtsverletzungen der Psychiatrie wenden und nicht gegen den Konsum von Psychopharmaka oder die sogenannten „Behandlungsmethoden” im Einzelnen. Denn: Auf der einen Seite soll es das Recht eines jeden Menschen sein, Drogen zu nehmen, wenn dies freiwillig geschieht und auf der anderen Seite spielt es weniger eine Rolle, welche Stoffe einem Menschen zwangsweise verabreicht werden, sondern es ist zu kritisieren, dass sie gewaltsam, d.h. unter Drohung, Nötigung und vor allem, unter gesetzlich legitimiertem Zwang, verabreicht werden. Alleine das Einstechen einer Nadel ohne Einwilligung des/der Betroffenen ist Körperverletzung und verletzt die im deutschen Grundgesetz angeblich garantierte Integrität der Menschen. Vielmehr ist der Hinweis auf spezielle Methoden der Psychiatrie daraufhin gegeben, zu untersuchen, inwieweit sie den (politischen) Zielen der Psychiatrie und der Herrschenden im Allgemeinen dienen.

Die Psychiatrie begeht also heutzutage nach wie vor weltweit schwere Menschenrechtsverletzungen: Körperverletzung, „Sonderbehandlung”, weitgehende Entrechtung, Entmündigung und Ausgrenzung. Dies passiert keinesfalls als Ausnahme, sondern ist staatlich-rechtlich legitimiert und gesellschaftlich toleriert bzw. erwünscht. Dies ist der Gegenstand von Teil II dieser Abhandlung. Dazu analysiere ich die entsprechenden Gesetzestexte und werde auch einen genaueren Blick auf die juristische und politische Diskussion um das Betreuungsrecht und die diesbezüglichen höchstrichterlichen Urteile werfen. Die Handlungsweise der Psychiatrie ist sogar als eine Form von Folter anzusehen. Während die Formen sogenannter psychiatrischer „Hilfe” je nach dem „Stand der Technik” wechselten, blieb das Charaktermerkmal der Folter mit dem Ziel, „Krankheitseinsichtigkeit” zu erlangen bzw. die Betroffenen gefügig zu machen, bis in die heutige Zeit bestehen. [...] Die moderne Eugenik, biologistische Menschenbilder und damit verbundene „Wissenschaften” wie die psychiatrische Genetik, Hirnforschung und ihre praktische Anwendung, z.B. bei der Gewaltprävention, gewinnen in der gesamtgesellschaftlichen, politischen und „wissenschaftlichen” Diskussion steigende Anerkennung und finden teilweise ebenfalls ihren Niederschlag in der Gesetzgebung. [...]

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, wie viele der NS-TäterInnen davongekommen sind, ohne für ihre Vergehen in irgendeiner Weise zur Verantwortung gezogen zu werden und obendrein nach 1945 ihre „glänzenden” Karrieren in ihrem Metier fortführen konnten. Ich möchte auf die frappierenden Mängel der „Aufarbeitung” der NS-Verbrechen, dem fehlenden Gedenken der Opfer und auf die anhaltende Verehrung der TäterInnen innerhalb der psychiatrischen Zunft hinweisen. Dieser Sachverhalt bestärkt die These, dass das nicht alleine seinen Grund darin hat, dass die Geschichtsaufarbeitung „irgendwie noch immer nicht gelungen ist”, sondern dass die VertreterInnen der heutigen Psychiatrie demselben Denken verhaftet sind, das die TäterInnen in der nationalsozialistischen Zeit und davor hatten. Aus diesem Grund deckt die heutige Psychiatrie nach wie vor viele der NS-VerbrecherInnen.

[...] Karl Bonhoeffer ist der Vater des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der seinerseits durch seinen Widerstand gegen die Nationalsozialisten berühmt geworden ist. Karl Bonhoeffer hatte sich nicht an den Mordaktionen in den psychiatrischen Anstalten beteiligt und sie angeblich auch abgelehnt. Er war aber sowohl ideologischer Wegbereiter für die späteren Massenmorde als auch praktischer Täter aufgrund seiner Beteiligung an der Zwangssterilisation. Weitgehend ungeachtet dessen genießt Karl Bonhoeffer als bedeutender Psychiater und auch als Person bis heute einen guten Ruf innerhalb seiner Zunft und auch allgemein in der Gesellschaft.


Anmerkungen

  • 1. Ignatieff 1998
  • 2. Regenbogenkino-Filmarchiv
  • 3. Thomas Szasz zitiert in Talbot 1998
  • 7. Lehmann 1990: 20 8 ebd.: 57 3
  • 9. Diese Entwicklung, ist u.a. beschrieben in Lehmann 1990: Teil 1-4: Seite 11-83. Lehmann unterscheidet darin die Methoden der „traditionellen” und der „klassischen” Psychiatrie und beschreibt den Übergang zur „modernen” Psychiatrie, die sich für ihn durch die „pharmakologische Behandlung” auszeichnet.
  • 10. Zum heutigen radikalen und politischen Widerstand gegen die Zwangspsychiatrie sei daherzu empfehlen: www.zwangspsychiatrie.de und zur aktuellen Kritik und dem Kampf gegen die Behandlungsmethoden der Psychiatrie vor allem: Breggin, Peter: Giftige Psychiatrie. Band 1. Heidelberg: Carl Auer Verlag 1996, seine Startseite zu psychiatrischen Drogen und E-Schocks: www.breggin. com und ein Artikel auf Deutsch zum Kampf gegen Elektroschocks: www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/gesundheit/breggin.htm und der hier bereits zitierte Lehmann, Peter: Der chemische Knebel. Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen. Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag: Berlin 1990 (überarbeitet 2005).