2015-01:Wer die Geschichte definieren kann, beherrscht die Gegenwart

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Wer die Geschichte definieren kann, beherrscht die Gegenwart!

Notwendige Ergänzungen zu Chronologie der Jugendumweltbewegung

Robin Wut Im Oktober 1985 kam es in Alt-Garge zu einer Kampfabstimmung um den Posten des Landesjugendsprechers der Naturschutzjugend Niedersachsen. Gegen die bisherigen Jugendvorstandsmitglieder, die sich um das Amt bewarben, kandidierte der bis dahin überregional kaum in Erscheinung getretene Jörg Bergstedt, damals Student der Landespflege und Naturschutzaktivist in Hannover. Anlass war ein Streit um Hierarchien im Jugendverband, die vom bisherigen Vorstand zu verantworten waren. Bergstedt konnte die Mehrheit der kleinen Runde anwesender Naturschutzjugendlicher für sich gewinnen.


Aufbauarbeit

Die folgenden 12 Monate stellten die Lage der Jugendumweltarbeit in Niedersachsen auf den Kopf. Der neue Landesjugendsprecher hatte für seine Ideen der Projektfreiheit, des Verzichts auf Verbands-Eigeninteressen und Kontrolle durch den Vorstand im noch bestehenden Jugendvorstand keine Mehrheit. Stattdessen schwang er sich aufs Fahrrad und kurvte die meiste Zeit durch Städte und Dörfer des Landes. Überall trommelte er Jugendliche zusammen und gründete mit ihnen immer neue Gruppen. Nach einiger Zeit halfen andere mit. Das Ergebnis: Über 100 aktive Basisinitiativen entstanden. Als ein Jahr später die nächste Jahresversammlung anstand, hatte sich die Zahl der teilnehmenden, jungen Aktiven verzehnfacht. Sie spülten den hierarchiebefürwortenden Vorstand auf den Müllhaufen der Geschichte. Fortan galt: Alle konnten machen, sich nennen und sich vernetzen, wie sie wollten. Die Dynamik durchbrach Hindernisse wie das abwehrende Verhalten von Erwachsenenvorständen und Bundesjugend, die um ihre Pöstchen und Verbandsinteressen fürchteten.
Kurz nach dem Start im Oktober 1985 trafen sich Naturschutzjugend und Bundjugend. Die Debatte führt zur gemeinsamen Einsicht, dass es sinnvoller sei, eine gemeinsame und offene Organisation zu gründen. Philipp Schepelmann war damals für die BUNDjugend dabei und berichtet von den Treffen zutreffend im Buch „20 Jahre JANUN“. Er irrt jedoch in der Jahreszahl - und behauptet dann fälschlicherweise, dass die Fusion am Widerstand des Erwachsenenverbandes DBV (damaliger Name, heute: NABU) scheiterte. Tatsächlich war es der BUNDjugend-Vorstand, der einen Riegel vorschob. Philipp erhielt für die Idee keine Mehrheit. Die Fusion wurde verschoben. Die Naturschutzjugend setzte - notgedrungen nun allein - aber all das um, was überlegt wurde. Im Ergebnis entstand ein offenes, durch vielfältige Aktionen geprägtes Netzwerk, in dem auch viele Gruppen und Personen mitwirkten, die nicht dem Verband angehörten.

  • Lohnenswertes Buch zur Geschichte: Beate Gonitzkis „20 Jahre JANUN“ aus 2010 (edition AV in Lich, 148 S.)


Wie JANUN entstand ...

JANUN ist nichts Anderes als die Fortführung dessen, was die Naturschutzjugend im Laufe des Jahres 1986 bereits wurde. Allerdings gab es mehrere Zwischenschritte. Dazu gehörten vermehrte Kooperationen bis Fusionen auf lokaler und regionaler Ebene. Denn die neuen Jugendgruppen interessierten sich vielfach nicht für die Skepsis ihrer Vorstände und vereinbarten auf unterer Ebene, gleichzeitig BUNDjugend, Naturschutzjugend und unabhängige Initiative zu sein. In die Vernetzung traten weitere Gruppen wie der DJN und eigenständige Einzelgruppen ein. Auf Landesebene entwickelte sich dann eine Idee, die formal von Bedeutung sein sollte und die Vorstufe zur rechtlichen Existenz von JANUN bildete: Der Eintritt in den Landesjugendring. Er wurde zum Triumpfzug. Denn in den LJR war lange niemand mehr aufgenommen worden - und auch 1987 scheiterten alle anderen. Die Jugendumweltverbände, die zu diesem Zweck die Arbeitsgemeinschaft Naturschutz im Landesjugendring (ANL) bildeten, wurden fast einstimmig aufgenommen. Die Gespräche mit den LJR-Mitgliedern führten vor allem Jörg Bergstedt und Thomas Schmidt. Die beiden hatten schon 1986 viel zusammen gearbeitet und in Hannover (ESG-Haus, An der Lutherkirche 6) eine WG gegründet, wo die erste Geschäftsstelle der Jugendumweltarbeit in Niedersachsen geschaffen wurde - im Schlafzimmer von Thomas, der tagsüber im Hauptstaatsarchiv arbeitete. 1987 verließen Thomas und Jörg Niedersachsen, um einer neuen Generation Platz zu machen. Während sie in Hessen bzw. Schleswig-Holstein ähnlich weiterwirkten, konnten sie aus der Ferne beobachten, wie sich aus der ANL das heutige JANUN bildete und in einem absurden Ringen mit den weiterhin destruktiven Erwachsenenverbänden als Verein eingetragen wurde.


Der Sprung auf die Bundesebene und der jähe Bruch

Silvester 1987/88 wurde Jörg Bergstedt in den Bundesjugendvorstand der Naturschutzjugend gewählt. Es begann das gleiche Spiel wie in Niedersachsen - und mit gleichem Ergebnis. Die Jugendversammlung 1989 in Braunschweig wählte mehrheitlich Vertreter_innen des hierarchiefeindlichen Kurses in den Bundesvorstand, die daraufhin das Gremium und alle Hierarchien lahmlegte. Projektfreiheit, Vielfalt an Aktionen und Selbstorganisierung prägten nun auch das bundesweite Geschehen sowie in der Mehrzahl der Landesjugenden. Allerdings nicht in allen. Konservativ eingestellte Jugendfunktionäre vor allem aus Rheinland-Pfalz und aus Nordrhein-Westfalen (viele von ihnen machten anschließend Karriere bei SPD oder Grünen) verbündeten sich mit dem hierarchisch organisierten Erwachsenenverband und schlossen im April 1990 zunächst den damals amtierenden Bundesjugendvorständler Jörg Bergstedt aus dem Verband aus. Begründung im Schreiben des späteren Grünen-Funktionärs Adrian Mork aus Schwerte: Bergstedt stände nicht auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der BRD, zu der sich der Verband aber bekenne. Etliche Jugendliche reagierten mit Gegendruck und konnten immerhin den hessischen Erwachsenenvorstand stürzen. Mit einer beherzten Gegenkandidatur konnte die damalige hessische Naturschutzjugendliche Jutta Sundermann wenigstens verhindern, dass Mork auch noch selbst Nachfolger auf dem Posten von Jörg Bergstedt wurde. Mehr gelang aber nicht. Stattdessen wurden Landesjugendverbände zwangsaufgelöst, Jugendliche aus ihren Büros mit Polizei abgeführt - ein übler Pakt zwischen Erwachsenenverbänden und dem Staat mit gemeinsamen, konterrevolutionären Interessen. In Niedersachsen gelang die Zerschlagung nicht. JANUN war zu gefestigt.
Als Folge der Verbannung der eigenen Nachwuchsorganisation organisierten diese sich neu. Was folgte, ist die eigentliche Blütezeit der Jugendumweltbewegung. Da die Abneigung gegen hierarchische Strukturen festverankert war, entstanden ganz andere Organisierungsmodelle, unter anderem ca. 50 Umwelt- und Projektwerkstätten als offene Aktionsplattformen für ökologische und zunehmend auch andere politische Themen. In Niedersachsen stellen sie die regionale Struktur von JANUN und wurden vom Verband als sogenannte Regionalbüros geführt.


Weiterentwicklung zwischen Radikalisierung und Anpassung

Es brachen irre Zeiten an: Ständige Aktionen, bis zu 10.000 Leute beteiligt (so z.B. beim Festival AufTakt in Magdeburg 1993), radikale Positionen gegen Staat und Kapitalismus - die Unterlagen der damaligen Zeit tragen einen bemerkenswerten Flair von Entschlossenheit, Selbstorganisierung und Herrschaftskritik in sich. Doch das blieb nicht so. Erfolg macht anfällig. Und auch die andere Seite reagierte. Als Erwachsenenverbände und Staat sahen, dass die Zerschlagung nicht gelang, wechselten sie die Strategie. Es begann das Zeitalter der Vereinnahmung: Gelder flossen, Hauptamtliche konnten eingestellt werden. Das nahm den meisten Aktiven ihre Schärfe. Viele schieden aus und begaben sich auf normalisierte Karrieren. Den größten Sprung schaffte die ursprünglich sehr starke Umweltwerkstatt Verden. Sie entstand als Versuch, die Kleinstadt nahe Bremen anarchistisch zu unterwandern. Sie endete als Mischung von Öko-Kleingewerbezentrum und abgehobenen, hierarchischen Bewegungsagenturen wie Campact, Bewegungsstiftung & Co. Dazwischen lagen Anbiederungen an die lokale CDU-FDP-Regierung und an Gerhard Schröders SPD sowie Millionen-Förderungen und Kredite. Heute, 25 Jahre nach ihrer Entstehung, sind von den fünfzig Umwelt- und Projektwerkstätten nur noch sehr wenige übrig - von den großen, eigenständigen nur noch die Projektwerkstatt in Saasen (bei Gießen). Diejenigen, die nicht aus der politischen Arbeit ausgestiegen und diese auf einen Politabend pro Woche reduziert haben, prägen NGOs und Kampagnen bis heute. „Ich würde sagen, das was es an ,Sozialen Bewegungen` in Deutschland gibt, ist sehr zurückgegangen, aber das, was es noch gibt, ist alles oder fast alles irgendwo mit dem Umfeld der JugendUmweltBewegung und JANUN vernetzt“, resümiert Peter von Rüden die Bedeutung der intensiven Phase um 1990 im Buch „20 Jahre JANUN“ (S. 21). Er selbst gehört ebenfalls zur zweiten Generation, war damals aber in Nordrhein-Westfalen aktiv - ein Einzelkämpfer in der dort eher konservativ-hierarchischen Jugendumweltszene, die überwiegend später Parteikarrieren machte. Aus den eher anarchistischen Strömungen formten sich die großen Modernisierungen politischer Bewegung, die heute mit Campact, .ausgestrahlt und anderen eine neue Qualität der Beherrschung und Vereinnahmung großer Massen geschaffen haben.


Verrat

Verrat ist, wenn mensch über den Wandel der eigenen Auffassung einen Begründungsnebel legt, der ihn verdeckt oder zur Weiterentwicklung verklärt. Das ist massenhaft geschehen. Viele der Jugendumweltaktivist_innen aus den Anfangsgenerationen sind heute noch aktiv. Das beweist die Intensität der damaligen Politphasen. Doch nur sehr, sehr wenige orientieren sich noch an den damaligen Überzeugungen. Nennen wir ein paar Verräter_innen mit ihrem ideellen Gehalt.

  • „Ökologie und Kapitalismus sind unvereinbar“. So schriebe es Sven Giegold 1992 auf ein Flugblatt. Kurz zuvor hatte er zum militanten Widerstand aufgerufen, was JANUN eine Landtagsdebatte bescherte. Heute ist er Mitautor des „Green New Deals“, dem kapitalismusbefürwortenden Wachstum-durch-Ökoinvestitionen-Programms der Grünen.
  • Erwachsene raus aus der Jugendarbeit - das war in der Gründungszeit eine der wichtigsten Botschaften der aktiven Jugendlichen. Einer von ihnen war Achim Riemann, heute der Prototyp des Berufsjugendlichen, d.h. eines erwachsenen Langzeitjugendarbeiters bei JANUN.
  • Weg von Bevormundung, Vereinsmeierei - stattdessen Organisierung von unten! Auch das war ein wichtiges Credo der Anfangsjahre der Jugendumweltbewegung. Etliche der damals tragenden Aktiven gründeten später Campact, die modernste und durchgestylteste Form bevormundender Politarbeit in Deutschland, bei der die Menschenmassen zu willenslosen Spender_innen werden, denen sogar die Protestschreiben noch vorformuliert und bei Demos industriegefertigte Fahnen in die Hand gedrückt werden.


Geschichtsfälschung

Eine einheitliche Geschichtsschreibung über die Jugendumweltbewegung existiert nicht. Allerdings gibt es etliche Fragmente. So bemüht sich Beate Gonitzki in ihrem Buch „20 Jahre JANUN“ um eine sehr offene Sichtweise. Sie versucht, auch die Anfangsjahre zu beleuchten und legt den Start von JANUN um zwei Jahre weiter nach vorne als der Verband selbst. Der will erkennbar seine radikalen Wurzeln vertuschen. Am deutlichsten wird das an einer bemerkenswerten Überarbeitung der eigenen Geschichte im Wikipedia-Eintrag über JANUN. Zunächst stand im Absatz „Geschichte“ neben Hinweis auf eine dezentrale Struktur („basisdemokratischer, regional organisierter Netzwerke“) auch der Satz: „Als prominentester Verfechter tat sich dabei der aus Niedersachsen stammende Jörg Bergstedt hervor.“ Am 28.2.2011 wurde der Absatz von einem Nutzer namens „JANUN“ überarbeitet. Der Satz mit Jörg Bergstedt wurde komplett gestrichen, während der Hinweis auf Sven Giegold als Mitbegründer stehen blieb. Wenn JANUN selbst diese Veränderung vornahm (worauf weitere Überarbeitungen im gleichen Vorgang hindeuten), so lässt sich sagen: JANUN entledigte sich seines Gründers - und bezieht sich lieber auf einen inzwischen pro-kapitalistisch argumentierenden Spitzenfunktionär einer kriegsbefürwortenden Partei. Das passt dazu, dass der Gestrichene weder zu Jubiläumsfeiern eingeladen noch in anderen Chronologien, Rückblicken usw. jemals erwähnt oder, wie im Buch „20 Jahre JANUN“ verschämt als „J.B.“ versteckt wurde, der Grünen-Star aber überall in den Vordergrund rückt.


Sven Giegold und andere

Der heutige Spitzenkandidat der Partei Bündnis 90/Die Grünen in €pa war 1986 in der Umwelt-AG der Hannoverschen Herschelschule aktiv und wurde dort von Jörg Bergstedt entdeckt, d.h. für die überregionale Jugendumweltarbeit gewonnen. Noch Jahre später bezeichnete Sven sich als „Zögling“ von Jörg. Tatsächlich war er damals bei öffentlichen Äußerungen als anarchistischer, auch militante Aktionsformen befürwortender Radikalökologe erkennbar. Zusammen mit anderen Personen, die ebenfalls vor allem von Thomas Schmidt und Jörg Bergstedt bei ihrer Aufbauarbeit 1985 und 1985 für die überregionale Jugendumweltarbeit gewonnen wurden, bildete Sven die zweite Generation der niedersächsischen Jugendumweltnetzwerke. Bei fast allen ist von ihren politischen Positionen der Anfangszeit nur noch wenig oder gar nichts zu spüren.

  • Abb. (nur in Printausgabe und PDF): Aus dem Flugblatt von Sven Giegold, 1992.