2017-02:Wegwerfen ist nur ein Symptom

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Interview: Lebensmittel aus dem Müll rausfischen

Wegwerfen ist nur ein Symptom

jb Wir haben ein Interview mit zwei Personen geführt, die in Gießen regelmäßig "containern", also Lebensmittel aus den Mülltonnen von Supermärkten retten. Die Namen sind verändert.

Seit wann geht ihr containern?

Kai P.: Wir sind noch nicht lange dabei, vielleicht ein dreiviertel Jahr, anfangs noch etwas schüchtern und vermummt, jetzt doch etwas selbstbewusster. Beim ersten Mal war es schon eine Überwindung. Aber ist alles nur im Kopf. Jetzt fühlt es sich eher an wie Pilze sammeln, man ist halt nie sicher, wie viel man findet.

Claudia M.: Im Moment gehen wir so 3x die Woche, davon 1x als Rundtour, wo wir mehrere Märkte ansteuern.

Kai: Anstoß war die Globale Mittelhessen Januar 2016, dort haben wir uns fast jeden Abend globalisierungskritische Dokumentarfilme angesehen und auch Leute aus verschiedenen alternativen und linken Kontexten kennengelernt. Nicht, dass wir uns vorher keine Gedanken gemacht hätten, aber dann hat es endlich dazu gereicht, nicht mehr einfach wie vorher weiterzumachen, sondern den Arsch hochzukriegen. Seither haben wir in unserem Leben einiges geändert und dann also auch mit dem Containern angefangen.

Was sind eure Beweggründe?

Claudia: Hauptpunkt für mich ist der Ausstieg aus dem Konsumwahnsinn, Protest gegen das Wegwerfen von einwandfreien oder nur leicht angemackten Waren.

Kai: Es ist doch glasklar: Die ganze Welt geht - immer mehr und immer schneller - vor die Hunde, wenn nicht eine radikale Änderung unseres Verhaltens stattfindet, also auch im Bereich der Nahrungsmittelorganisation. Allein hier in Gießen wird endlos viel Nahrung in den Müll geworfen, Essbares, für das anderswo unter oft miserablen Bedingungen für Kleinstentlohnungen gebuckelt werden muss. Damit das hier von unserer Westwerte-Gesellschaft dann in die Tonne gekloppt wird? Wir haben keine Lust mehr, uns von irgendwelchen skandalösen Gesetzen einschüchtern zu lassen. Ein großer Teil der Lebensmittelindustrie dient einfach nicht den wirklichen Bedürfnissen der Menschen. Das wollen wir nicht länger unterstützen, indem wir dort einkaufen.

Claudia: Es geht doch kaum klarer: Es ist ein ganz übler Missstand, dass wir jederzeit von Kriminalisierung bedroht sind, wenn wir uns an die Container machen, die noch zugänglich sind. Noch übler ist nur, dass hier zur Vernichtung vorgesehene Waren von den meisten Discountern und Supermärkten weggeschlossen werden, damit kein Containerer mehr dran kommt.

Warum landet so viel Essen, das noch verwertbar ist, im Abfall?

Claudia: Da spielen sicher mehrere Dinge hinein: Zum einen sind viele Konsumenten durch Dauerberieselung mit Werbung, die Charakterdefekte wie Gier, Neid, Egozentriertheit, Sucht, Missgunst und Prahlerei kultiviert, abgestumpft und verblödet. Die schmeißen ja selbst Bananen weg, weil eine kleine braune Stelle dran ist, hab ich ja früher auch so gemacht. Kaufen würden sie sowas schon gar nicht, also kann der Supermarkt das auch nicht im Regal lassen. Aber das hört sich jetzt so an, als seien die Werbefuzzis und die Endverbraucher schuld. Schuld ist aber kein gutes Konzept. Das ganze System ist falsch und das Wegwerfen der Lebensmittel ist nur ein Symptom, genau wie Knäste, Psychiatrien, Umweltzerstörung etc. pp. In dieser kranken Logik stellen die Märkte das dann auch nicht, wie man es ja - Naivität vorausgesetzt - in einer Gesellschaft mit auf christlichen Wurzeln aufbauendem Selbstverständnis erwarten könnte, Bedürftigen und Aussteigern zur Verfügung. Nein, sie haben Angst, dass ihnen dann ein paar Prozentpunkte Umsatz flöten gehen oder unterwerfen sich den firmeninternen Hierarchien und schließen es weg, bis die Müllabfuhr kommt! Armselig.

Welche Lebensmittel kann man in der Regel noch verwerten? Wovon lasst ihr lieber die Finger?

Claudia: Als Vegetarier nehmen wir halt kein Fleisch mit, auch nicht für Freunde. Totes Tier müssen die schon selbst containern. Ansonsten konnten wir das meiste verwerten, was wir aus den Containern holen. Im Winter waren einige Sachen im Container gefroren und schienen noch gut, stellten sich im aufgetauten Zustand aber als ziemlich matschige Pampe heraus, das kam dann halt bei uns in die Biotonne.

Kai: Anfängerfehler eben.

Claudia: Was noch fest verschlossen ist, ist in der Regel auch noch gut. Es ist allgemein bekannt - nehme ich an - dass das Mindesthaltbarkeitsdatum nicht viel über die Verzehrbarkeit aussagt. Für angebrochene und offene Sachen wie Obst und Gemüse konnten wir uns gut auf die naturgegebenen Sinne verlassen, also genau ansehen, dran riechen, betasten. Und gut abwaschen.

Kai: Bisher musste ich noch nichts ausspucken, was wir zubereitet hatten, geschweige denn, dass ich mir den Magen verdorben hätte. Aber vielleicht kommt das dann auch mal vor. Als ich in den 80ern noch bei McDonalds aß, war das anders, da war mir immer schlecht danach.

Worauf muss man sonst beim Containern achten?

Claudia: Dass man den Mitarbeitern des Marktes keine Arbeit aufhalst, indem man da eine Sauerei hinterlässt, die die dann morgens wegmachen müssen.

Kai: Allerdings bei abgeschlossenen Containern wäre das anders. Da beteiligen sich Mitarbeiter am Vernichten und Unerreichbarmachen von guter Ware, nur weil der Chef das anordnet.

Claudia: Dass man nur so viel mitnimmt, wie man selbst verbrauchen oder an Bekannte verteilen kann, und den Rest für anderes Containerer drin lässt. Wir nehmen auch Rücksicht auf Anwohner und lassen die Containerklappen nicht scheppernd zukrachen.

Sind die Container frei zugänglich oder überwindet ihr Zäune und Mauern?

Kai: Momentan sind wir nur bei frei zugänglichen Containern, aber mal sehen, was kommt. Am 10. April ist ein Prozess in Aachen wegen Containern. In diesem Zusammenhang weisen wir hier mal auf eine E-Petition zum Kippen dieses Scheiß-Paragraphen hin, einfach im Netz mal nach "Containern ist kein Verbrechen" suchen. Also wenn das nicht bald umgestoßen wird und Containern somit wie in anderen Ländern straffrei wird, steht unserer Radikalisierung nicht viel im Wege. Dann kommen wir bald mit Zangen, Eisensägen und Hiltis... (lacht)

Ihr engagiert euch also auch politisch, um auf die Nahrungsmittelverschwendung hinzuweisen?

Claudia: Ja. Ab April soll es in Gießen Aktionen bzw. Demonstrationen auf dem Seltersweg geben, wo es um fairteilen gehen soll, da schauen wir sicher mal vorbei. Seit der Globale 2016 engagieren wir uns in einigen lokalen Projekten. Viel Zeit nehmen wir uns momentan noch nicht dafür, da wir immer noch voll im Job stehen. Ob wir da nicht auch am besten aussteigen sollten und die Prioritäten noch mal neu setzen, darüber denken wir immer öfter nach. Aber auch mit nicht so viel Zeit geht doch einiges.

Kauft ihr überhaupt noch Lebensmittel?

Kai: Tja, auch an uns sind das oben erwähnte Werbetrommelfeuer, eingebildete gesellschaftliche Zwänge nicht spurlos vorübergegangen und so erleidet einer von uns in größer werdenden Abständen Heißhungerattacken auf Sachen, die gerade nicht im Container waren. Dann wird auch eingekauft.

Claudia: Wir bilden aber gerade auch ein Netzwerk mit Anderen, die auch regelmäßig containern - und zwar in anderen Märkten, wo eher andere Produkte im Müll landen, das scheint nämlich sehr marktspezifisch zu sein. So können wir einen immer größer werdenden Teil abdecken. Das ist alles total locker und hat auch nichts mit dem Tauschen zu tun, wo jeder darauf achtet, nicht zu kurz zu kommen. Jedenfalls haben wir das Gefühl, dass uns das menschlich und was unsere Wertvorstellungen angeht, alles sehr gut tut.

Habt ihr schon mal Probleme bekommen? Wurdet ihr schon mal von Angestellten oder Passanten angesprochen?

Kai: Naja, was heißt Probleme. Das wäre ja auch nur im ersten Moment ein Problem, wenn die Bullen einen schnappen. Danach müsste sich der Markt entscheiden, eine Anzeige zu erstatten und wir würden dafür sorgen, dass zu dem Skandal zu machen, der er ist: Dass Leute massiven Ärger kriegen, weil sie gute Lebensmittel aus dem Müll retten, weil Markt xy diese anzeigt, kann imagemäßig für die Märkte ganz schön in die Hose gehen, zuletzt ließ tegut ja hier in Gießen die Diebstahlanzeige gegen einen Polit-Aktivisten fallen, der containert hatte. Hatten die Herren Anwälte wohl so empfohlen. Was für ein Justiz-Theater! Nein, ich würde mich erst mal erschrecken, dann aber selbstbewusst entsprechende Gegenmaßnahmen versuchen.

Claudia: Wahrscheinlich haben auch viele Polizisten einfach keine Lust auf so einen Kleinkram und fahren einfach weiter, oder, sie haben verstanden, dass es eigentlich was Gutes ist, was wir machen und übersehen uns. Aber das ist vielleicht zu romantisch gedacht. Als wir anfingen und noch vermummt waren, hat uns sonntagmorgens eine ältere Passantin angesprochen, als wir vollbepackt vom Marktgelände gingen, und uns in ein Gespräch gezogen. Die fand das prima. Ganz schön mutig, so vermummte Gestalten anzuquatschen!

Wie viele Menschen kennt ihr im Gießener Raum, die regelmäßig containern?

Claudia: Regelmäßig? Na so 10 ungefähr.

Kai: Wir sind da die Geronto-Fraktion, die meisten sind Studenten, nehme ich an.

Warum geht ihr ausgerechnet dienstags und freitags containern? Werden an diesen Tagen besonders viele Lebensmittel entsorgt? Gibt es denn Tage (z.B. Tage, an denen die Müllabfuhr kommt), an denen besonders viel entsorgt wird?

Claudia: Nein, das ergibt sich aus dem festen Plan unserer Freizeitaktivitäten nach dem Job. Dienstags und freitags machen wir noch was nach dem Job und kommen dann so spät nach Hause, dass es die ideale Containerzeit für Berufstätige ist. Also Markt-Mitarbeiter sind weg, es ist aber noch nicht so spät, dass man morgens nicht mehr aus den Federn kommen würde. Möglicherweise gibt es da Muster, an welchen Tagen es besser oder schlechter ist, soweit haben wir das aber noch nicht ausgewertet.

Ist in eurem Freudeskreis bekannt, dass ihr containert? Wie reagieren eure Freunde darauf?

Kai: Die Menschen, mit denen ich eine freundschaftsähnliche Beziehung habe, nehmen das hin oder finden das wahrscheinlich gut. Da ich nicht bei Facebook bin, habe ich gar nicht so viele sogenannte Freunde, daher sind solche Beziehungen sowieso an einem Huf, maximal einer Hand abzählbar.

Claudia: Unsere Bekannten, die das wissen, finden das befremdlich, glaube ich, fahren uns, wenn's sich ergibt, aber auch schon mal zum Markt mit dem Auto. Die Verwandtschaft, soweit eingeweiht, ist gespaltener Meinung, respektiert es aber. Was bleibt ihnen auch übrig?