2020-01:Der Diebstahl

Aus grünes blatt
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Der Diebstahl

Jean Trauerweide Mir wurde schon viel gestohlen in meinen Leben. Schon unmittelbar nach meiner Geburt trennte man mich von meiner Nabelschnur, mit 16 klaute man mir meine Unschuld (erste ordentliche Verurteilung) und mit 28 raubte man mir meine Illusion eines schönen Lebens. Ich musste das erste mal meine Dreckwäsche selber waschen.

Besonders dreist war aber ein schwerer Diebstahl, der mich erst Jahre später ereilte. Ich war mit meinem neuen Tesla in eine zwielichtige Gegend mit riesigen Wohnblöcken gefahren, um meine knappe Portokasse zu entlasten, indem ich meinen Müll in die dortigen Mülltonnen entleere und so Müllgebühren spare. Ich fuhr also vor die Mülltonnen, entleerte meinen Biomülleimer und meinen Restmüllsack und bemerkte, dass das Wetter gut war.

Ich ließ deswegen meinen Biomülleimer stehen und sah mich um. Nicht weit entfernt von den Mülltonnen waren gleich ein dutzend Parkplätze frei, da sich die Menschen hier eh kein Auto leisten konnten. Also parkte ich dort mein Auto, ließ die Scheiben runter, damit es nicht zu heiß wurde, und ließ den Schlüssel stecken, damit meine gute Musik nicht ausging.

Dann entschied ich mich einige Meter spazieren zu gehen. Das gute Wetter und die Aussicht auf den Nervenkitzel, wenn ich in dieser verruchten Gegend spazieren gehen würde, waren ein guter Motivator. Noch besser war nur das Gefühl, später damit auch noch im Golfclub damit angeben zu können. Die anderen trauten sich nie hier hin.

Ich ging also bis zur ersten Häuserecke, an der ein armer Mensch Pfandflaschen suchte. Ich fand eine solche Aktivität so exotisch, dass ich meine teure Spiegelreflexkamera rausholte und ein paar Fotos für den Golfclub machte. Danach legte ich die Kamera auf den Mülleimer, um ein Selfi von mir mit einer Pfandflasche zu machen.

Kaum war das im Kasten lenkte mich etwas Neues ab. Ich sah ein Nußmäulchen (Auch Eichhörnchen genannt) eine Ecke weiter mit einer Nuss über den Weg huschen. Ich ließ die Kamera auf dem Mülleimer liegen und rannte hinterher, auch wenn ich damit aus der Reichweite der Musik meines Teslas kam. Zwei Ecken weiter hatte ich das Tier dann in einer Ecke gestellt. Ich holte mein goldenes Zigarrenetui heraus und bot den kleinen Geschöpf eine Zigarre an, aber es schien keinen Geschmack zu haben und nahm sie nicht an. Stattdessen rannte es an mir vorbei und verschwand auf einem Baum. Wütend warf ich das Etui hinterher. Aber bevor ich es wieder aufheben konnte, vernahm ich etwas Anderes, was meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein Vogel sang auf einem kargen Baum mitten zwischen den hohen Häusern. Und er sang gut. So gut, dass ich mich unter den Baum schlich, um ihm zuzuhören. Leider klingelte genau in dem Moment, wo ich angekommen war, mein Smartphone und der Vogel flog weg, um sich ein paar Meter weiter auf ein Geländer zu setzen. Ich ließ also mein Smartphone neben dem Baum liegen und schlich mich vorsichtig an den Vogel heran. Das Geländer gehörte leider zu einer kleinen Fußgängerbrücke, welche über eine Hauptstraße führte, so dass ich seinen Gesang dort nicht mehr hören konnte. Ich scheuchte den Vogel also wieder auf und er flog erneut weiter auf einen Baum auf der anderen Seite der Brücke. Diesmal war ich sicher das ich den wunderschönen Gesang wieder hören könnte, wenn ich nur leise und nah genug an ihn herankommen würde. Ich schlich mich also an den anderen Baum an. Aber eine Katze hatte die selbe Idee und sie wollte sicher nicht den Gesang hören, sondern sich den Bauch vollschlagen. Heroisch nahm ich meine prall gefüllte Brieftasche und warf sie nach der Katze. Und die hatte die Geste auch verstanden und floh. Leider der Vogel auch.

Aber so leicht gab ich nicht auf. Ich raste dem Vogel durch die Straßen hinterher und überlegte sogar meinen Helikopter anzufordern, um den Vogel einzuholen. Leider bemerkte ich, dass ich mein Smartphone nicht mehr dabei hatte, und dass Autofahren auch mit einem Tesla einen nicht sportlicher machte. So entkam der Vogel und ich wurde um mein Recht auf seinen Gesang gebracht.

Wütend machte ich mich auf den Heimweg. Aber wie zum Hohn musste ich feststellen, dass mich nicht nur der Vogel um seinen Gesang gebracht hatte, sondern auch die menschlichen BewohnerInnen Diebe waren. Voller Wut und dank meiner Kontakte zum Bürgermeister und zum Innenminister sorgte ich dafür, dass die Gegend sicherer wurde.

Die Straße, wo mein Auto stand, wurde ab sofort kameraüberwacht. Polizisten sicherten die Mülleimer, damit daraus keine Pfandflaschen mehr geklaut wurden. Und auf der Brücke gab es jetzt einen Checkpoint mit Zaun und Stacheldraht. Die Bäume ließ ich fällen, damit sich dort kein Ungeziefer mehr verstecken konnte und Scharfschützen überwachten die ganzen Maßnahmen von den Dächern der Hochhäusern. Zu guter Letzt sorgte ein Team von Psychologen dafür, dass ich bald über die Folgen des Diebstahl hinwegkommen würde. Finanziert wurden die Maßnahmen durch eine Sondersteuer für Arme. So würden die Menschen aus dem Viertel begreifen, was für ein Unrecht sie verbrochen hatten.

Sie fragen sich sicher, ob ich mir nicht einen neuen Tesla hätte kaufen könnte. Klar könnte ich das, aber der war ja auch gar nicht gestohlen worden. Auch mein Smartphone, meine Brieftasche, meine Kamera und sogar das goldenes Zigarrenetui bekam ich von BewohnerInnen zurück. Was mich so traumatisiert hatte und mir bewies, dass alle Armen kriminell sind war: Mein Biomülleimer blieb spurlos verschwunden.


Der Autor hat eine Menge Kurzgeschichten und mehrere Bücher verfasst. Das meiste davon sind Originalausgaben, die bislang nur einem exklusiven Kreis von Freund*innen zugänglich sind. Im grünen blatt dürfen wir die eine oder andere der aus dem Politleben des Schreibers gegriffenen und oft witzig überzogenen Geschichten abdrucken, von denen Jean Trauerweide in einer Inhaltsangabe sagt: "Manche dieser Geschichten sind politisch korrekt. Oder überhaupt politisch. Dies ist keine ernsthafte Literatur." Und: "Sämtliche Rechtschreibfehler stammen aus Freilandhaltung und sind antiautoritär erzogen worden."