2006-02:Vegane Nahrungsmittelbeschaffung unter emanzipatorischen Blickwinkeln

Aus grünes blatt
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Selbstversorgung, Containern, Klauen, Bioregale & co.:

"vegane" Nahrungsmittelbeschaffung unter emanzipatorischen Blickwinkeln

Falk Beyer

All unser Handeln hat Auswirkungen. Die Texte zur politischen Bedeutung des Containerns und des Veganismus haben das an einigen Beispielen bereits verdeutlicht. Die Wechselwirkungen verschiedener politischer Aspekte bei der Nahrungsmittelbeschaffung (Ausbeutung von Menschen bzw. anderen Lebewesen, ökologische Folgen, Herrschaftsverhältnisse) sind meist komplex und die Widersprüche können selten mit einfachen Lösungsansätzen aufgehoben werden. Mit diesem Text sollen einige Handlungsansätze unter politischen Blickwinkeln verglichen werden, um Tendenzen aufzuzeigen und Vorschläge für ein emanzipatorisches Vorgehen bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln zu entwerfen.


Containern

Die Verwertung von weggeworfenen, noch genießbaren Lebensmitteln ist vermutlich das Prinzip mit den geringsten direkten ökologischen, sozialen und ethischen Auswirkungen. Durch den Konsum dieser Produkte wird keine Nachfrage geschaffen und damit nicht bewirkt, dass diese "nachproduziert" werden. Denn (normalerweise) werden Lebensmittel von Discountern & co. nicht weggeworfen, damit die Mülltonne immer schön gefüllt ist, und wenn "Abfälle" entnommen werden, schafft das keinen neuen Bedarf an Müll bei dessen ProduzentInnen. Ausnahmen kann es trotzdem geben. Vor allem die ökologisch fatale massenhafte Verbreitung von Müllverbrennungsanlagen kann zu "Versorgungsverträgen" führen, die eine Mindestliefermenge vorsehen. Zumindest von einigen Kommunen ist bereits zu hören, dass es ausreichend viel Müll geben müsse, weil sonst die Gebühren pro Einheit steigen würden. Ob sich diese Logik auf Supermärkte & co. übertragen lässt, ist unklar.

Eine - zumindest latent vorhandene - Gefahr im Zusammenhang mit Containern ist, dass die hier aktiven Personen sich im Alltag aus dem Wunsch nach möglichst "guten" Produkten heraus weniger bewusst verhalten: Erstmal wird als positiv wahrgenommen, wenn ein bestimmter Supermarkt immer frische, qualitativ hochwertige Lebensmittel wegwirft. Das kann im Alltag (Gespräch, Einkäufe, Aktionen) problematische Auswirkungen haben. Dann ist plötzlich der Markt "cool", der eigentlich am unökologischsten wirtschaftet. Erfolgreiches Containern und politische Bewertungen sind hier offensichtlich gegenläufig: Ist der Containern-Erfolg groß, bedeutet das häufig, dass der betreffende Supermarkt besonders kritikwürdige wirtschaftet. Das spricht nicht gegen das Containern (denn dieses erhöht nicht die Auswirkungen von Ausbeutungsprodukten), sondern für ein sehr bewusstes und selbstkritisches Vorgehen.

Nachteilig am Containern als Selbstorganisations-Ansatz ist, dass es nur sehr begrenzt auf einen breiten Teil der Bevölkerung übertragbar ist. Das Müllaufkommen ist (glücklicherweise) begrenzt und kann nur nischenartig von einigen wenigen Leuten genutzt werden. Allerdings wird das vorhandene Potential bisher in den meisten Orten noch nicht ausgereizt.

Problematisch kann der Konsum containerten "nicht-veganer" Lebensmittel auch wirken, wenn dieser ganz selbstverständlich geschieht. D.h. ohne Vermittlung, dass es sich um containerte Produkte handelt und mensch diese wegen der mit ihrer Produktion verbundenen Ausbeutung und Ermordung von Lebewesen nicht kaufen würde.

Dem Containern fehlt außerdem ein utopischer Ansatz, der für Emanzipationsprozesse wichtig ist. Stattdessen kann es als das "weniger Schlechte im Schlechten" (analog zum Spruch vom "Richtigen im Falschen") bezeichnet werden. In einer emanzipatorischen Utopie wird es unnötige Müllberge vermutlich nicht mehr geben, diese Nahrungsmittelquelle fällt dann also aus. Alternativen dazu sind notwendig.


Selbstversorgung

Ein gar nicht seltener Ansatz zur schrittweisen Realisierung von Utopien ist die Selbstversorgung, die bei vielen Alternativprojekten anzutreffen ist. Selbstversorgung ist allerdings nicht per se emanzipatorisch bzw. aus ökologischen oder ethischen Blickwinkeln immer positiv zu bewerten. Hier soll es aber nur um solche Selbstversorgungsprojekte gehen, die eine vegane, ökologische Nahrungsmittelproduktion versuchen.

Auf dem Weg zu einer herrschaftsfreien Welt sind Projekte gefragt, die experimentieren und Formen von Nahrungsmittelproduktion entwickeln, die dieser Utopie nahe kommen. Selbstversorgungsprojekte können also einen wichtigen utopischen Ansatz bilden.

Allerdings zeigt sich hier auch schnell und sehr deutlich, wie schwer der Anspruch einer Lebensweise ohne negative Folgen für andere Wesen erreichbar ist. Denn auch bei Selbstversorgungsprojekten werden diese aus ihrer bisherigen Umwelt verdrängt bzw. durch die Veränderung der Biotope indirekt umgebracht, weil sie nun schwerer Nahrung finden bzw. sich weniger gut vor Feinden schützen können.

Im bioveganen Landbau wird versucht, diese Auswirkungen so gut wie möglich zu reduzieren. Komplett geht dies aber nicht, ohne selbst auf die Nahrung zu verzichten. Spätestens bei der Nahrungskonkurrenz durch Mäuse & co. wird sich dies bestätigen. Eine gleichberechtigte Verhandlungsbasis mit anderen Spezies gibt es derzeit (wahrscheinlich) nicht. Wenn Menschen behaupten, sie würden aus dem Verhalten "ihres" Hundes ablesen können, was er will, verhalten sie sich ähnlich wie PädagogInnen, die zu wissen meinen, was das Beste für "ihre Schützlinge" sei. Auch wenn Menschen den ebenfalls von ihren angebauten landwirtschaftlichen Produkten lebenden Mäusen ein gewisses Kontingent zugestehen, besteht keine gleichberechtigte Verhandlungsebene, sondern geschieht es aus einer überlegenen (Herrschafts-)Position heraus.

Will mensch effektiv politisch leben, so ist eine umfassende Selbstversorgung kaum möglich, da der Arbeitsaufwand für einzelne Menschen unverhältnismäßig höher ist, als wenn es sinnvolle Kooperationen mit ähnlich gelagerten Projekten gibt. Wer nicht den überwiegenden Teil des Tages mit der Beschaffung von Lebensmitteln verbringen will, wird Selbstversorgung nur als eine von verschiedenen Nahrungsquellen nutzen können. Hier sind also effektive Kombinationen verschiedener Selbstorganisations-Ansätze nötig.


Schnorren

Im Zusammenhang mit Selbstorganisation[1] beschaffen viele Menschen Lebensmittel per Schnorren bei Herstellern, HändlerInnen und Produzenten. Das wird in der Praxis von der gefühlsmäßigen Wirkung her häufig mit Containern gleichgesetzt, erreicht dessen Niveau an Ausbeutungsreduktion aber nicht. In vielen Fällen, in denen mensch Produkte geschenkt bekommt, ist anzunehmen, dass dies ähnlich dem "Kauf" eine Nachfragewirkung hat und hiermit die Produktion dieser geschenkten Dinge samt ihrer ökologischen, ethischen und sonstigen Folgen angeregt wird. Ausnahmefälle bestehen dann, wenn diese Lebensmittel ansonsten entsorgt würden und ihr Fehlen also nicht bewirkt, dass andere Produkte an ihrer Stelle genutzt werden.

Wenn im Bioladen noch haltbare (und verkaufbare) Produkte oder sogar Milch & co. verschenkt werden, ist die Wirkung ähnlich, als würde mensch diese kaufen. Der Unterschied besteht im wesentlichen darin, dass nicht der Zwang entsteht, meine Zeit mit Lohnarbeit zu verschwenden, sondern in politische Projekte gesteckt werden kann, um die Gesellschaft zu verändern. Häufig werden beim Schnorren aber auch Lebensmittel verschenkt, die wahrscheinlich in der Mülltonne gelandet wären, da sie nicht mehr gekauft würden (z.B. nicht lange haltbares Obst und Gemüse zu Marktschluss). Diese könnte mensch von der Folgenwirkung her auch als "containert" verbuchen.

Unberücksichtigt in der Analyse des eigenen Handelns bleibt viel zu oft der Image-Gewinn, den Unternehmen aus dem Akt des Verschenkens ihrer Produkte bzw. durch die Bewerbung über die Produktlabels (z.B. bei Kongressen) haben. Da sollte mensch überlegen, ob diese Form von Unterstützung für dieses Unternehmen wirklich akzeptabel ist oder ein Vorgehen, das keine positiv-Werbung beinhaltet, entwickelt werden.


FoodCoops

Der Einkauf in regionalen, selbstorganisierten Lebensmittelkooperativen kann emanzipatorischen Charakter haben, da mensch sich vom anonymen Markt wegbewegt (sofern tatsächlich in der Region eingekauft wird) und die Distanz zwischen ErzeugerInnen und VerbraucherInnen sinkt. Das ist auch eine wichtige Bedingung für das Entstehen freier Kooperationen "auf gleicher Augenhöhe". Wenn regional hergestellte Produkte eingekauft werden, verbessert dies in der Regel auch deren Ökobilanz, da Transportwege wegfallen. Es wird auch einfacher möglich, sich über die Produktionsbedingungen zu informieren und auf diese Einfluss zu nehmen.

FoodCoops können sinnvoll zur Ergänzung selbst angebauter und containerter Produkte eingesetzt werden, da mensch hier effektiv "politisch einkaufen" kann. Natürlich immer vorausgesetzt, die FoodCoop ist nicht als hierarchische Struktur organisiert und greift nicht überwiegend auf den Großhandel zu.


Bioläden

In Bioläden ist der Aspekt des Regionalbezugs schon nur noch beschränkt erfüllbar, da hier häufig auf den Öko-Großhandel zurückgegriffen wird. Auch sind die Einflussmöglichkeiten der VerbraucherInnen bedeutend geringer als in selbstorganisierten FoodCoops. Aber es gibt Vorzüge gegenüber konventionellen Läden, da die Biogeschäfte meist noch nicht so stark in großkapitalistischen Strukturen verankert sind (einige versuchen sich auf diesem Sektor allerdings bereits energisch und erfolgreich) und mensch somit weniger undurchschaubare mächtige Konzern unterstützt. Auch bei den Produkten ist dies überwiegend der Fall. Innerhalb der Öko- bzw. Alternativbranche nehmen allerdings einige Marken ähnlich fragwürdige Positionen ein wie auf dem "großen Markt". Viele davon gehören zur Anthroposophischen Gesellschaft, einem Zusammenschluss, der sich ideologisch an die mehr als fragwürdigen Theorien Rudolf Steiners (weitere Quelle) anlehnt und diese auch über ihre Mitglieder zum Teil massiv verbreitet.

Wie schon zu bemerken gewesen sein dürfte, orientiert sich die Abfolge der hier behandelten Lebensmittelquellen daran, wie hoch das emanzipatorische Potential der jeweiligen Ansätze ist. Vielleicht sollte noch hinzugefügt werden, dass nicht jede Anwendung der Ansätze dieses Potential erfüllt. Es gibt gewiss auch sehr offene, bewusst geführte und regional ausgerichtete Bioläden, die dann aus emanzipatorischem Blickwinkel "besser" zu bewerten wären als eine autoritär geführte FoodCoop, die nur Ökolabel-Produkte von ansonsten auch konventionell produzierenden Firmen über den Großhandel bezieht. Also auch hier gilt, dass in jedem Einzelfall abgewogen und reflektiert werden muss, welches Handeln welche Folgen hat.


Bioregal im Supermarkt

Viele konventionelle Supermärkte haben aufgrund des Öko-Booms (im Verkaufssektor - im politischen Bereich dagegen ist ein Rückgang an Aktivitäten und Unterstützung zu registrieren) "Bioregale" eingeführt. Mensch kann also "wie ganz normale Leute" zwischen lauter pestizid- und düngerbelasteten Produkten auch Bioalternativen kaufen. Dass damit die Strukturen gestärkt werden, die ihr Hauptgeschäft mit klaren Ausbeutungsprodukten machen und mit Bioprodukten nur eine weitere "Nische" abgreifen, ist deutlich. Auch die hier zu findenden Biomarken haben häufig geringere Ansprüche als die für ihr Öko-Engagement bekannten älteren Labels, die in den meisten Bioläden zu finden sind und häufig neben dem "offiziellen" Bio-Siegel auch die Label ökologisch anspruchsvollerer Bio-Landbauverbände tragen. Da jeder Einkauf im Supermarkt den Umsatz erhöht und damit die unsozialen und ökologisch fatalen Produktions-, Verarbeitungs- und Vermarktungsprozesse unterstützt, würde ich dies möglichst vermeiden.

Inzwischen gibt es in einigen Städten auch Bio-Supermärkte. Diese können als ähnlich problematisch wie ihre konventionelle Konkurrenz betrachtet werden. Bereits am Preis lässt sich erkennen, dass in den kostenträchtigeren Bereichen Personal und Ökoaspekte gespart werden muss. Vom Outfit und Abfallausstoß her ist auch kein großer Unterschied zu herkömmlichen Supermärkten zu erkennen. Die Arbeitsbedingungen dürften hier auch ähnlich prekär sein.


Konventionelle Produkte im Supermarkt

Konventionelle "vegane" Produkte bringen in der Regel den ganzen Rucksack an Ausbeutungssymptomen ihrer "nicht-veganen" Konkurrenz mit sich. Das betrifft nicht nur die landwirtschaftliche Produktion der Nahrungsmittel, wo Millionen Lebewesen direkt mittels Pestiziden oder Überdüngung bzw. indirekt durch die Verdrängung aus ihrem Lebensraum oder Entzug ihrer Nahrungsgrundlage umgebracht werden. Es geht auch um die Verpackung, für deren Rohstoffgewinnung häufig riesige Umweltzerstörungen vorgenommen werden, die sich auch krass auf die dort lebenden Wesen auswirken und sicherlich mit diesen nicht gleichberechtigt ausgehandelt wurden (betrifft auch Öko-Lebensmittel in umweltschädlicher Verpackung). Und ebenso betrifft dies den Transport, der nur infolge massiver Flächenzersiedelung und -versiegelung (Straßenbau) sowie ökologisch desaströse Kraftstoffgewinnung möglich ist. All dies geschieht auch im Zusammenhang mit "ökologisch produzierten" oder "fair gehandelten" Produkte, meist aber in wesentlich niedrigerem Ausmaß.

Ob solche Lebensmittel, deren Herstellung, Verarbeitung, Transport und Verkauf mit verhältnismäßig hoher Umweltzerstörung, Unterdrückung und Ausbeutung verbunden sind, überhaupt noch sinnvoll als "vegan" (im Sinne von keine Tierausbeutung) bezeichnet werden können, ist zumindest fraglich. Lediglich auf der Zutatenliste sind keine Opfer vermerkt. Das sollte aber nicht alleiniges Kriterium für die Konsumentscheidung sein.


Klauen als Alternative?

Ähnlich wie das Schnorren von Produkten ist auch deren unerlaubte Aneignung im Laden (Klauen) mit einer Erhöhung der Nachfrage verbunden. Schließlich werden diese geklauten Dinge in aller Regel durch neue ersetzt, die also zusätzlich angeschafft werden. Mensch schadet damit bestenfalls der HändlerIn, falls diese nicht gegen Diebstahl versichert ist. Es ist also der ganze "Rucksack" an Folgen mit dem geklauten Produkt verbunden, nur muss mensch nicht extra jobben gehen, um sich zu versorgen...


Fazit

Die geringsten ökologischen Auswirkungen hat sicherlich die Verwendung bereits aus dem Verwertungsprozess entfernter Produkte (Containern). Hiermit wird auch nicht die Herstellung neuer Produkte - samt den damit verbundenen Folgen - ausgelöst. Allerdings ist das Containern eher nicht als Element einer emanzipatorischen Utopie zu betrachten, sondern höchstens als Nische auf dem Weg dahin. Selbstversorgungsansätze auf bio-veganer Grundlage haben dagegen utopietaugliche Ansätze, aber auch mit Sicherheit mehr Konsequenzen für die dabei verdrängten und geschädigten Lebewesen als in der Bilanz des Containerns entstehen.

Da die wenigsten Menschen sich nur mit einem der beschriebenen Ansätze befriedigend versorgen können, ist es sinnvoll individuell passende Kombinationen aus diesen zu finden. Beispielsweise durch überwiegendes Containern, in Ergänzung durch weitere Nahrungsmittel in Kooperation mit einem Selbstversorgungsprojekt. Die Dinge, die auf diese Weise nicht zu bekommen sind, könnten dann bei bio-veganen Firmen geschnorrt bzw. in der FoodCoop eingekauft werden.

Wer sich so organisiert, hat wahrscheinlich so niedrige Ausgaben, dass das Kostenargument bei der Entscheidung, ob ein Produkt im Bioladen/FoodCoop oder Supermarkt gekauft wird (falls gekauft werden soll), eine vernachlässigbare Rolle spielt.

Wichtig bleibt, möglichst viel konkret zu reflektieren, welche Auswirkungen die Verwendung jedes einzelnen Produkts haben kann oder wird, und dies mit den eigenen Bedürfnissen und Ansprüchen abzugleichen.


Links und Fußnoten


  1. Selbstorganisation: das Prinzip, möglichst viele Lebensaspekte ohne Rückgriff auf Lohnarbeit oder ähnliche Abhängigkeiten von der Verfügbarkeit von Geld zu organisieren und sich dabei möglichst viele Unabhängigkeit schaffende Fähigkeiten anzueignen