2010-01:selbstorga

Aus grünes blatt
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Was ist Selbstorganisierung?

Fremden Köpfen oder Computern das eigene Leben überlassen?

jb Praktisches Handeln, das auf eine möglichst weitgehende Eigenständigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zielt. Im Kapitalismus bedeutet Selbstorganisation, sich den Verwertungslogiken zu entziehen versuchen und aus eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten heraus zu überleben und zu agieren. Zur Selbstorganisation ist der Zugang zu Ressourcen notwendig, z.B. zu Boden, Nahrungsmittel, Wissen oder Werkzeug - je nachdem, was selbstorganisiert verwirklicht werden soll. (Definition „Selbstorganisierung“ im Buch „Freie Menschen in freien Vereinbarungen“)


Selbstorganisierung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Fremdsteuerung

Fremdsteuerung bedeutet die alternativenlose Hingabe eines Menschen an vorgegebene Zeitabläufe, Zugänge zu Ressourcen und normierende Einflüsse. Selbstverschuldet ist sie deshalb, weil es möglich wäre, Alternativen zu den Vorgaben und Angeboten zu entwickeln, dieses aber aus Mangel an Willensstärke, tatsächlich das Leben in die Hand zu nehmen, aber auch aus eingeschleiftem Alltagstrott (Fremdbestimmung als Routine), Angst oder Bequemlichkeit unterbleibt.
Fremdsteuerung kann zwei Formen annehmen. Zum Einen kann sie repressiv daherkommen, d.h. mit sichtbaren oder direkt fühlbaren Mitteln der Machtausübung einen Zwang erzeugen. Die Spanne reicht von Bedrohung, Strafe oder Entzug von Annehmlichkeiten bis zu physischer Gewalt.
Zum Anderen kann sie dem Menschen in Form eines Angebots (z.B. Ausbildung, Job, Hartz IV) entgegentreten, das die Erfüllung der Wünsche verspricht und funktional erscheint. Ein solches Angebot gleicht einem Kanal, in dem menschliches Streben gelenkt wird und dort dann in gerichteter Weise stattfindet. Verbunden sind beide Formen, wenn repressive Gewalt einem Menschen die Alternativen nimmt, so dass ihm das unterbreitete Angebot in besonderer Weise funktional erscheint - z.B. weil es, manchmal nur scheinbar, als einzig möglicher Weg verbleibt.
Selbstorganisierung hat folglich einen aufklärerischen Ausgangspunkt. Sie ist nur möglich, wenn ein Mensch sich die Fähigkeit (wieder) aneignet, sein eigenes Handeln und seine Umwelt bewusst und aufmerksam zu beobachten, zu hinterfragen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Selbstorganisierung ist daher kein Status, sondern ein Prozess der Aneignung von Möglichkeiten in Form von Wissen, Ressourcen und dem aufmerksamen Blick für das Geschehen. Selbstorganisierung ist Aktivität, beginnend im Kopf und endend in der tatsächlichen Handlung, die Potentiale je nach eigenem Willen zu nutzen.


Selbstorganisierung ist eine Einstellung

Selbstorganisierung ist nicht nur Trampen und Containern. Das sind Techniken, die anzueignen sich lohnen kann, um effizient und unabhängig einige materielle Voraussetzungen für ein gutes Leben im Hier und Jetzt zu sichern. Sich handwerkliches Wissen anzueignen oder gut Marmeladen einkochen zu können, gehören auch dazu. Woher Informationen kommen können, wie der nächste Umsonstladen oder die nächste Bücherei zu erreichen ist und was beim Klauen zu beachten ist - all das geht in diese Richtung.
Selbstorganisierung aber ist mehr als das. Es ist eine Einstellung - und zwar, das ist das besondere an der Idee der Selbstorganisierung, eine allzeit aktive! Mensch kann bestimmten Ideologien anhängen - das funktioniert auch, wenn gerade Denkpause ist. Selbstorganisierung aber endet, wenn Pause ist. Das schließt Pausen nicht aus, aber wenn aktive Wahrnehmung aufhört, endet die Selbstorganisierung - bis das Aktive wieder beginnt.
Genau deshalb ist Selbstorganisierung so schwierig. Autoritäre Erziehung und familiäre Umsorgung, kontrollierender oder behütender Staat und die unsichtbare Hand kapitalistischer Ressourcenbereitstellung machen aus Menschen glückliche MitläuferInnen - tote ArbeiterInnen und KonsumentInnen im Strom. Das gilt auch für die meisten AktivistInnen in politischen Bewegungen. Ihr Alltag ist oft auf fremdbestimmte Geldbeschaffung (Eltern, Hartz IV, Job) und mit diesem Geld eingekaufte Ware orientiert. Ihr politisches Engagement reduziert sich auf die Teilnahme an von anderen vorgedachten Aktivitäten oder gar Mitgliedschaft und finanzielle Förderung. Das alles verschärft die ohnehin vorhandene Zurichtung, sich selbst wohl zu fühlen, wenn keine eigenen Entscheidungen getroffen werden müssen und die Dinge nicht von einem/r selbst abhängen und gesteuert werden.
Noch fieser: Erziehung und Kapitalismus sind auch noch funktional für alle, die mitschwimmen. Wer auf „eigenartiges“ Verhalten verzichtet, erhält eher elterliche Zuneigung, gute Noten, einen Arbeitsplatz, Konto und Wohnung, soziales Umfeld und keinen repressiven Druck staatlicher Kontrollorgane. Wer abweicht, erfährt Ablehnung, Ausgrenzung, Isolation oder eine andere Form von Bestrafung. Meist ist diese aber gar nicht nötig - allein die Angst davor, allein zu stehen und sich selbst bzw. neu organisieren zu müssen, lässt die meisten Menschen auf dem Pfad der Normalität weiterwandeln. Sie werden in der Regel belohnt - so lässt es sich leben im Sinne des Existierens. Erziehung und Kapitalismus schaffen ausgetretene Wege, auf denen das Fortkommen ohne große Reibungsverluste funktioniert. Bedeutende Hindernisse fehlen oder sind bekannt. Effizient ist das alles nicht (welch ein gigantischer Aufwand ist es, einen kompletten Job ableisten zu müssen nur um Wohnung, Nahrung usw. zu haben, von denen es eigentlich genug gibt!), aber es entsteht ein Gefühl der Geborgenheit, auf dem ausgetretenen Weg zu bleiben. Auch wenn er im Kreis führt. Oder alles Treibsand ...


Wille zum Machen: Sich selbst als AkteurIn sehen!

Selbstorganisierung ist die Gegenkultur zum Mitschwimmen. Mitschwimmen meint das Nutzen der vorgegebenen Kanäle, der ausgetretenen Pfade. Es ist für diesen Betrachtungswinkel gleichgültig, ob mensch Top-Banker, NATO-General, Hausfrau (gerade in dieser Geschlechtsfestlegung) oder Mitwirkender eines Bioladens ist. Das ist alles vorgedacht, schon x-mal dagewesen. Es gibt vorgeprägte Wege zu diesen Lebensmittelpunkten in Form von sozialer Zurichtung (z.B. Erziehung), Ausbildung, Wissenskontrollen und angepasstem Verhalten. Wer diese erfüllt, verliert Selbstbestimmung und Unabhängigkeit - und gewinnt das Gefühl, versorgt zu sein und zu funktionieren, was wie eine Belohnung und damit attraktiv wirkt. Absurderweise vermittelt das vielen Menschen Glücksgefühle. Wer seine Rolle erfüllt, fühlt sich dadurch glücklich. Unterstützendes Zureden durch ChefInnen, NachbarInnen, Familienmitglieder und sonstiges soziales Umfeld tun ein Übriges. Wir leben, formulierte Heinz von Foerster, in einer Kultur, „die uns dazu bringt, ein stabiles Eigenverhalten zu entwickeln, Signale auf eine spezifische Weise zu interpretieren, sie als eine Einladung zu ganz bestimmten Verhaltensweisen zu deuten“.0 Ähnlich beklagte Erich Fromm, dass zwar „dem Kind nicht mehr gesagt wird, was es zu tun hat ... Aber es wird ihm von seinen ersten Tagen an ein heilloser Respekt vor der Konformität eingeimpft, die Angst, ,anders' zu sein, und die Furcht, sich von der Herde zu entfernen.“1 „Der Mensch ist von Kindheiten auf die Vorstellung hin erzogen worden, daß er eine Autorität außerhalb seiner selbst zu akzeptieren hat - Mutter sagt, Vater sagt, der Lehrer sagt, die Kirche sagt, der Chef sagt, der Ministerpräsident sagt, die Experten sagen, der Erzbischof sagt, Gott sagt -; er hat so ausgiebig die Stimme der Autorität vernommen, daß er sich keine Alternative mehr vorstellen kann.“2 Die Verschiebung im Zuge des modernen Diskursmanagement ändert an all diesem nichts, nur das Übliche, das Angesagte, das Normale haben gegenüber den formalen Autoritäten an Durchsetzungskraft gewonnen. Innerhalb dieser durch die diskursiven Vorgaben geformten Kanäle lebt es sich denkfaul, mitschwimmend im Strom. Das Handeln wird nicht mehr als eigenes Handeln erlebt, damit fällt auch das Gefühl weg, für die gefällten Entscheidungen verantwortlich zu sein - ein beruhigendes Gefühl aufgrund fehlender Vorstellung darüber, was die eigene Entscheidung bewirken wird.
Es wirkt also auf den ersten Blick schön blöd, anders zu handeln. Das doch zu tun, reißt eineN heraus aus dem Bewährten. Der Kopf muss plötzlich angeschaltet werden ... und nimmt eine Welt wahr, die ziemlich grauselig ist. Es ist wie eine der wenigen starken Szenen im Film „Matrix“, diesem Streifen mit der guten Idee und peinlichen Umsetzung: Nimmst Du die blaue oder die rote Kapsel. Die blaue, die einen in der Illusion der Umsorgung belässt, führt auf den sanfteren Weg. Alles bleibt beim Alten - die Illusionen und die Abhängigkeit, die als Geborgenheit erlebt wird. Die andere ist anstrengender, aber sie ist das Leben, wenn Leben als Tätigkeit im Sinne von Ausleben, sich entfalten, Entwicklung und Dynamik begriffen wird. Sie bringt mensch an das Steuer des eigenen Lebens zurück. Es entsteht unmittelbares Interesse daran, Handlungsoptionen zu erschließen. Gleichzeitig wird das eigene Handeln wieder zur eigenen Sache. Das ist nicht nur eine technische Frage des Sich-Durchschlagens durch den Alltag ohne den Umweg fremdbestimmter Ressourcenzugänge, Märkte und Regeln. Sondern es ist eine Philosophie, in der sich ein Mensch wieder selbst in den Mittelpunkt rückt und zum Subjekt des eigenen Lebens macht.
Das aber ist leichter gesagt als getan, denn all unsere soziale Zurichtung läuft in die andere Richtung. Unser soziales Umfeld drängelt uns, normal zu sein. Und die sozialen Rahmenbedingungen belohnen uns, wenn wir es ihm gleich tun. Dabei ist das Normalsein nicht einmal kraftsparend - es ist ja nicht effizient, täglich einen aufwendigen Job zu machen, um sich das Essen kaufen zu können, das es eigentlich im Überfluss gäbe. Es ist auch seitens Staat und Industrie nicht effizient, erhebliche Ressourcen aufzuwenden, um Menschen zum Hungern zu bringen, Mangel zu erzeugen und viele abzuhalten vom Zugriff auf das, was genug da wäre für alle. Aber es wirkt bequem. Weil mensch nicht nachdenken muss. Normal geht auch ohne Nachdenken. Selbstorganisiertes Leben hingegen ist Aktivität ...


Hineingeworfen in eine Welt der Möglichkeiten

Hängen wir hinter diese Idee der aktiven Wahrnehmung und Entscheidung zum Handeln noch eine grundlegendere Betrachtung an: Was ist das Leben? Kommt es darauf an, eine bestimmte Rolle auszufüllen? Oder bedeutet Leben die Entfaltung der eigenen Möglichkeiten? Die Vorgabe in dieser Gesellschaft ist eindeutig. Menschen werden von Geburt an in bestimmte Rollen gedrängt. Als erstes erfolgt die Zuordnung zu einem Geschlecht - ist es nicht eindeutig, kommt das Messer zu Einsatz und macht aus der Vieldeutigkeit das Einheitliche. Danach folgen weitere Zuordnungen, immer neue Kanäle für einen absehbaren Verlauf des Lebens bieten sich an. Das färbt ab: Der Kopf vergisst sein Eigenleben. Das Vorgegebene wird als angenehm empfunden, da es keine Unklarheiten schafft. Alles ist vorhersehbar, wie immer. Das beruhigt, das Leben läuft auf ,Standby'. Ein Teufelskreis beginnt: Immer größer wird die Unfähigkeit, sich selbst zu orientieren und zu organisieren. Umso angenehmer wird das Übliche empfunden, während alles Neue und Ungewisse immer schärfere Angst auslöst. Das führt zu einem Hang, im Vorgegebenen zu verharren, womit die Schleife von vorn beginnt.
Doch ist Leben die Einordnung in das gesellschaftliche Angebot von Lebenswegen? Wäre das so, gäbe es keine gesellschaftliche Evolution mehr. Leben wäre die Reproduktion des schon Gedachten und Erprobten. Selbstorganisierung wäre überflüssig, die gesellschaftliche Sphäre würde das Leben durch und durch bestimmen. Diesem Bild gegenüber steht die Idee der Selbstentfaltung. Es zeichnet kein autonomes, von gesellschaftlichen Bezügen freies Individuum. Angesichts des sozialen Charakters jedes Menschen wäre das ein Trugschluss. Leben ohne Interaktion, Kommunikation und Kooperation ist nicht möglich. Aber in diesem Bild ist jeder Mensch ein reflektierendes, aktives Wesen, das die eigene Umwelt prüft, zwischen Möglichkeiten auswählt und die Rahmenbedingungen so verändert, dass neue Möglichkeiten entstehen. Die Neukombination des Bestehenden, aber auch der kreative Entwurf des bisher Ungedachten zeichnen das Verhältnis zur Gesellschaft aus.
In dieser Konzeption ist der Mensch nicht mehr gefangen im Bestehenden, sondern steht in einer gestaltenden Wechselbeziehung. Ein kategorischer Imperativ aus dieser Überlegung könnte lauten: „Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst“3 - also mindestens immer die Auswahl zwischen verschiedenen Optionen bleibt. Das hebt aber auch alle Klarheiten auf, denn das Bestehende ist nicht mehr starr. Das eigene Handeln verändert wiederum die Handlungsmöglichkeiten. Das eigene Leben und die Lebensumstände entwickeln sich dynamisch und zumindest nicht vollständig vorhersehbar. Das gilt für eineN selbst und für die Beziehungen zu anderen Lebewesen. Mensch bestimmt auch diese autonom, doch diese Autonomie heißt nicht Einsamkeit, sondern bedeutet Selbstbestimmung auch in Fragen der Kooperation und sozialen Bindung. Aktuell ist diese Welt weit davon entfernt: Familie, KlassenkameradInnen, ArbeitskollegInnen - vieles davon ist nicht selbst gewählt.
Ein solches Verständnis der Welt passt zur Utopie von Herrschaftsfreiheit. Denn dort wären alle Klarheiten, alle Normen und festen Regeln verschwunden. Jede Idee kann jederzeit in Frage gestellt werden, keine Welterklärung oder Lebensweisheit wäre privilegiert. Die Menschen agieren nach eigenen Entscheidungen und in freien Vereinbarungen. Dieser „Anarchismus ist die Haltung der permanenten Erzeugung, Um- und Neuschaffung der (sozialen) Welt.“4


Fußnoten

0 Heinz von Förster/Bernhard Pörksen (8. Auflage 2008), „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, Carl Auer Verlag in Wiesbaden (S. 98)
1 Fromm, Erich (1985): "Über den Ungehorsam", dtv München (S. 16.f.)
2 Colin Ward, Anarchismus als Organisationstheorie. Quelle: www.anarchismus.at/txt4/colinward.htm
3 Heinz von Förster/Bernhard Pörksen (8. Auflage 2008), „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, Carl Auer Verlag in Wiesbaden (S. 36)
4 Diefenbacher, Hans (Hrsg., 1996): "Anarchismus", Primus Verlag in Darmstadt (S. 91). Die meisten als AnarchistInnen auftretenden TheoretikerInnen und Gruppen im deutschsprachigen Raum haben mit dieser Idee der Herrschaftsfreiheit aber wenig zu tun – sie setzen auf Fremdbestimmung, Gruppenidentität, Label und z.T. krude Marktökonomien.