2010-02:Direkte Aktionen Wietze

Aus grünes blatt
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Aktionen gegen Massentierhaltung. Direkte Aktionen im Wietze-Zusammenhang

„Ich weiß, ich weiß nicht wo die Befreier sich verstecken ‒ keinen Plan, ich weiß, ich weiß nicht wo und selbst wenn ich’s wüsste, würde ich’s keinem sagen …“ — Fidl Kunterbunt in Jolene2

„Es war noch nie so, dass die Herrschenden freiwillig Zugeständnisse gemacht haben, geschweige denn, dass sich prinzipielle Dinge geändert hätten, nur weil mensch darum bittet. Wir sehen außerdem an vielen Punkten, dass die Definition dessen was als böse und gesetzesbrecherisch gilt, völlig verschoben wird. Galt früher eine Motarradmaske oder ein Helm als Vermummung, dann ein über die Nase gezogenes Tuch, ist es heute eine dunkle Sonnenbrille mit Kapuze. Und morgen wird vielleicht der aufrechte Gang verfolgt. Da entscheiden wir schon lieber selber über unsere Mittel.
Gesetze werden außerdem nicht deshalb weniger verschärft oder gar zurückgenommen, weil es keine Straßenschlachten oder Anschläge mehr gibt. Die Herrschenden finden immer Gründe, den Repressionsapparat auszubauen: Flüchtlinge, Jugendbanden, die angeblich so organisierte Kriminalität – was halt gerade Mode ist. Insofern richten wir danach nicht unsere Aktivitäten aus, sondern gehen davon aus, dass wir uns mit vielen unterschiedlichen Mitteln politisches Terrain erkämpfen müssen. Militanz ist nur eins davon. Wir sind diejenigen, die handeln können, wenn wir wollen.“ — Johnny in „Militanz ist ein Mittel, kein Programm“, Interim 498.

Schnitzel Im Zusammenhang mit der geplanten Geflügelschlachtfabrik und den für die Genehmigung und Durchführung erforderlichen 420 Mastanlagen kam es zu vielfältigen und direkten Aktionen. Diese ließen es klar und deutlich werden, dass es Menschen gibt, die in keinster Weise bereit sind, ihren Protest und Widerstand in den ihnen von oben vorgeschriebenen Rahmen pressen zu lassen sowie Forderungen an die Herrschenden zu stellen, deren Aufgabe es ist und immer sein wird alles dafür zu tun sich selbst und die momentan bestehenden Verhältnisse aufrecht zu erhalten. Ganz im Gegenteil stellen sich Menschen gezielt und direkt Mastanlagen, Schlachthöfen und andere lebensverachtenden Projekten in den Weg.

In der Nacht auf den 24. Mai 2010 besetzten etwa 30 Tierhaltungsgegner_innen einen Acker in Wietze bei Celle. Auf diesem soll noch dieses Jahr Europas größte Hähnchenschlachtfabrik entstehen, die erschreckende 420 Hähnchenmastanlagen im Umkreis von 100 km nach sich ziehen wird. Die Gründe für die Besetzung wurden mit Hilfe eigener Pressearbeit, Transparenten, Gesprächen und vielen Infoveranstaltungen in verschiedensten Städten erläutert. Auch kreative Aktionen von Graffiti, Kunstblut-Aktionen, verstecktes sowie offenes Theater, bis zu Mars TV und Fakes thematisierten die verschiedenen Gründe von Menschen, sich gegen Massentierhaltung zu stellen. Die Gründe reichen von dem kaum vorstellbaren Tierleid über die katastrophalen Umweltauswirkungen, die Abhängigkeit sowie Vertreibung der Bäuerinnen und Bauern in Lateinamerika bis hin zur systematischen Unterdrückung von Individuen aufgrund der höher gestellten Interessen von Profit und Kapital.[1]

Am 08.08. erreichte folgendes Bekenner_innenschreiben[2] den Dortmunder Verein die Tierbefreier e.V.:

„In der Nacht vom 29.07.10 zum 30.07.10 wurde ein Brandanschlag auf eine entstehende Hähnchenmastanlage in Sprötze verübt. Die gesamte Halle stürzte dabei ein. Es soll ein Sachschaden von 500.000 Euro entstanden sein. Die Mastanlage sollte eine von über 400 Zulieferbetrieben für Europas größten geplanten Hähnchenschlachthof in Wietze werden. Für diese Aktion gab es vielseitige Gründe:
Durch den Bau neuer Mastanlagen wird die Umwelt massiv geschädigt. Ammoniak, das in der Gülle der Tiere enthalten ist, führt zur Übersäuerung der Böden. Saurer Regen wird ausgelöst, was zum Waldsterben führt. Gewässer werden verunreinigt und dauerhaft geschädigt. Für die nichtmenschlichen Tiere werden enorme Mengen an Wasser und Nahrung verschwendet. Für 1 kg Hähnchenfleisch werden im Durchschnitt 10 kg Getreide und/oder Gensoja und mehr als 1500 Liter Wasser benötigt. Regenwälder werden für den Anbau von Soja gerodet. C02 wird schwieriger abgebaut und die Klimaveränderung beschleunigt. Zahlreiche Tier- und Pflanzenarten werden außerdem ausgerottet. Durch erhöhten LKW-Verkehr für Transporte von Futter und nichtmenschlichen Tieren wird noch mehr C02 produziert. Nichtmenschliche Tiere werden als nutzbare Ressource (!) angesehen und behandelt. Zum Beispiel in Zoos und Zirkussen, als Haustiere, als Pelztiere, Leder-, Fleisch-, Eier- und Milchlieferanten, Tierversuche etc. Dabei werden ihnen jegliche Bedürfnisse, Gefühle, Wünsche und Schmerzempfindungen abgesprochen. Sie haben keine Chance ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten.
Die Aktion wurde durchgeführt um direkt Leben zu retten, da alle vorher argumentativ geführten Auseinandersetzungen gescheitert sind. Der psychische Druck und der finanzielle Schaden, der auf der_dem Besitzer_in lastet ist uns bewusst. Dies steht aber in keinem Verhältnis gegenüber den Qualen, die die Hähnchen dort erleiden müssten. Alle Versuche, die Mastanlage wieder aufzubauen um Profit auf Kosten von Individuen zu machen werden wir zu verhindern wissen! Solange nichtmenschliche Tiere der Herrschaft der Menschen unterworfen sind, bleiben sämtliche Tierausbeutungsbetriebe Ziele solcher und ähnlicher Aktionen. Auch sollte diese Aktion zeigen, dass Tierausbeutung direkt angegangen werden kann.
Wir möchten an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir jegliche Gleichsetzung der Situation der nichtmenschlichen Tiere heute mit der Situation der Opfer des Nationalsozialismus ablehnen. Ursachen und Auswirkungen verschiedener Herrschaftsformen sind komplex und unterscheiden sich in vielen Punkten. Diese sind nicht gegeneinander zu werten, sondern zu analysieren und alle zu bekämpfen. Herrschaftskritik muss eine Auseinandersetzung mit Speziesismus, Kapitalismus, Rassismus, Sexismus, Antisemitismus etc. beinhalten. Wir möchten jeden dazu ermutigen für die Befreiung aller Individuen von jeglicher Form der Herrschaft auf seine/ihre Weise zu kämpfen.
Für die Freiheit aller Tiere!
A.L.F.“

Am 10. August wurde die fast 3 Monate bestehende Besetzung in Wietze von ca. 250 Polizei- und SEK-Bediensteten geräumt. Um die Räumung gezielt zu behindern ketteten sich 10 Aktivist_innen an einen Betonklotz, an ein Fass, in einen Wohnwagen, der in ein Erdloch gelassen wurde und auf Tripods (dreibeinige Türme), sodass die Räumung ca. 12 Stunden und nur unter hohem materiellen und personellen Aufwand durchgeführt werden konnte.[3] In den darauf folgenden Tagen und Wochen kam es in vielen Städten wie Stuttgart, Freiburg, Dresden, Erfurt, Dortmund, Berlin etc. zu zahlreichen Solidemos, Kundgebungen, Straßentheatern und anderen Aktionen.

Solidemo in Erfurt

In diesem Artikel möchte ich besonders die Solidemo in Erfurt am 13.08. hervorheben, wo etwa 70 Menschen lautstark durch Erfurts Innenstadt zogen. Nach Auflösung der Demo ketteten sich zwei Menschen an das Tor eines Fastfood-Restaurants und blockierten so den Ein- bzw. Ausgang. Sie konnten erst nach ca. einer Stunde von der Polizei „befreit“ werden. Die beiden Aktivist_innen entkamen daraufhin im Getümmel, sodass eine Personalienfeststellung durch die Polizei nicht möglich war.[4]

Und auch am 13. August gab es in Lübeck eine Spontandemo an der sich ca. 20 Menschen beteiligten, um ihren Protest gegen die Räumung der Feldbesetzung in Wietze an die Öffentlichkeit zu tragen. Kurz vor Ende der Demo wurde die McDonalds Filiale mit roter Farbe verschönert. Dies führte dazu, dass zwei Nazis, die sich zuvor im McDonalds aufhielten, die Demo mit Fleisch beschmissen. Der Angriff konnte allerdings erfolgreich abgewehrt werden. Die Polizei nahm kurze Zeit später zwei Aktivist_innen fest, die sie aber bald wieder „frei“ ließen.[5]

Räumung der Mastanlagen-Besetzung

Am 16. August um 6 Uhr wurde ein Feld zwischen Üfingen und Alvesse bei Braunschweig von Aktivist_innen besetzt, auf dem eine weitere umstrittene für 84.000 Hähnchen ausgelegte Mastanlage gebaut werden soll. Diese Mastanlage soll als Zulieferbetrieb für Rothkötters Schlachthof in Wietze dienen. Die Besetzung inklusive Betonfass, an dem sich eine Person festgekettet hatte, wurde nach 8 Stunden wieder geräumt.[6]

In der Nacht zum 21. August gab es einen „versuchten Brandanschlag“. Es brannten Mülltonnen auf dem Gelände der „Mastputenbrüterei“ des Mannes der niedersächsischen Agrarministerin Astrid Grotelüschen (CDU) in Ahlhorn im Landkreis Oldenburg. Dort werden Putenküken ausgebrütet und an Mastställe verkauft.[7]

In der Nacht vom 22. zum 23. August wurde in Alvesse die Auffahrt des Grundstücks eines Bauerns, der eine weitere Mastanlage für den Schlachthof in Wietze plant bauen zu lassen, mit folgendem Wortlaut verziert: „Gerecke noch hast du die Wahl. Deine Taten werden Konsequenzen haben. A.L.F.“[8]

Auch wenn das Aktionsfeld bestimmt noch nicht ausgeschöpft wurde, zeigten die verschiedensten Aktionen und Aktionsformen doch, dass hier eine Bewegung entsteht/entstehen könnte, die von ihren Aktionsformen, ihren Inhalten bis zu ihrer Organisierung eine unglaubliche Vielfalt zum Ausdruck bringt/bringen könnte.

Zum einen lassen sich in der radikalen Kritik an Massentierhaltung antispeziesistische, ökologische, antikapitalistische und herrschaftskritische Elemente miteinander verbinden. Zum anderen bietet ein sich im Bau befindlicher Schlachthof mit beteiligten Baufirmen, Securityfirmen, Versicherungen, Genehmigungsbehörden etc. und 420 zum Teil fertig gebauten, sich in Bau befindlichen oder noch gar nicht gefundenen Mastanlagen ein weites Feld an vielfältigsten und kreativsten Widerstands- und Aktionsformen.

„Deshalb sind kleine, leicht reproduzierbare Aktionen, die einfache Mittel erfordern, welche allen zugänglich sind, durch ihre Einfachheit und Spontanität unkontrollierbar. Diese machen sogar die meist vorangeschrittensten technologischen Entwicklungen der Aufstandsbekämpfung zum Gespött.“ — Faltblatt: „Einige Notizen zu Aufständischen Anarchismus“