2011-02:Wietze und die Mastanlagen

Aus grünes blatt
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Wietze und die Mastanlagen – Eine Zwischenbilanz

Wietze ist überall...

Paeman Spätestens seit im Sommer 2010 knapp 30 Aktivist_innen den Bauplatz für Europas größte Hühnerschlachtfabrik in Wietze (Landkreis Celle) für ca. 3 Monate besetzt hielten, ist der Diskurs um Massentierhaltungsbetriebe in Medien und Öffentlichkeit allgegenwärtig.
Doch auch die Bandbreite des Widerstands gegen solche agrarindustriellen Großprojekte ist stark gewachsen.

War ein kontinuierlicher Protest an den jeweiligen Standorten zuvor lokal hauptsächlich durch Bürgerinitiativen (BIs) und überregional durch bäuerliche Zusammenschlüsse wie der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) vertreten, interessieren sich mittlerweile auch viele Aktive aus Tierrechts-/Tierbefreiungs-, Umwelt- und Anti-Gentechnikzusammenhängen für die Thematik.
Einerseits hat dadurch die Anzahl der Aktionen (und Aktionsformen!) stark zugenommen. Andererseits hat die Präsenz dieser Bewegungen an vielen Stellen auch neue Inhalte in die Debatte gebracht.
So werden z.B. ethische Aspekte der Tierhaltung, Vertreibung, Vernichtung und Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Süden, Klimawandel und Gentechnik im Futtermittelanbau durch die Tierfabriken der Industrieländer inzwischen deutlich mehr thematisiert. Dabei profitieren umgekehrt Aktivist_innen bei ihren Aktionen von Infrastruktur, Recherchearbeit, Mobilisierungskraft und materieller Unterstützung durch vorhandene Initiativen bzw. NGOs, sofern beide Seiten eine Zusammenarbeit für sinnvoll erachten.

Vor dem Hintergrund der z.T. seit Jahren andauernden Proteste gegen andere geplante Tierfabriken wie Europas größter Ferkelzuchtanlage in Alt-Tellin (Mecklenburg-Vorpommern) und Boehringers Tierversuchslabor in Hannover kommt Wietze dabei noch eine besondere Rolle zu. Hier geht es um einen Komplex, der neben dem Schlachthof selbst auch hunderte Mastanlagen beinhaltet, die eigens für dessen Belieferung in der Region entstehen müssten.
Zudem scheint es, besonders seit Beginn der Bauarbeiten in Wietze, sinnvoll, das Projekt verstärkt dezentral, d.h. durch die Verhinderung möglichst vieler Zulieferbetriebe anzugreifen.
Denn: Rothkötter hat nach wie vor große Schwierigkeiten genügend bereitwillige Mäster_innen zu finden. Nach Informationen der AbL sind momentan erst ca. 20 der für die erste Ausbaustufe nötigen 120 bzw. im weiteren Verlauf der Planungen bis zu 480 (!) Mastanlagen genehmigt. Gründe hierfür dürften sowohl moralische Bedenken und die berechtige Angst vieler Landwirt_innen vor der totalen Abhängigkeit – Rothkötter würde u.a. die Küken und das Futter aus eigener Produktion liefern – als auch der drohende Zusammenbruch des Marktes für Geflügelfleisch, die sog. „Hähnchenblase“ sein.

...wir auch!

Doch auch der bisherige Widerstand spielt dabei sicher eine Rolle. Geht ein Bauer oder eine Bäuerin auf die fragwürdigen Angebote des Unternehmens ein und wird das Ganze öffentlich, ist eine örtliche BI vorprogrammiert. Dass es auch dabei nicht bleiben muss, hat am eindrucksvollsten der Brandanschlag auf die Mastanlage in Sprötze (Landkreis Harburg) gezeigt. Bei der Aktion, zu der sich später in einem Schreiben die ALF bekannte, brannte Ende Juli 2010 die kurz vor der Inbetriebnahme stehende Anlage für knapp 40.000 Tiere fast vollständig nieder. Ein Sachschaden von 500.000 Euro entstand – auf dem Gelände befanden sich zu diesem Zeitpunkt weder Menschen noch Hühner. Die „Täter_innen“ konnten trotz intensivsten Ermittlungen seitens der Staatsanwaltschaft gegen mindestens 5 Personen aus dem Umfeld des Wietze-Widerstands und einem Kopfgeld von 25.000 Euro für Hinweise bis heute nicht ausfindig gemacht werden. Aufgrund der Repressionen gründete sich Anfang des Jahres eine Soli-Gruppe, mit deren Hilfe schon nach kurzer Zeit eine Einstellung des Verfahrens bei allen Beschuldigten erreicht wurde.

Zugleich gab es im letzten Jahr neben der Wietze-Besetzung und den damit einhergehenden zahlreichen Aktionen vor Ort im Mai eine einwöchige Mahnwache gegen die Anlage in Sprötze und im August eine am selben Tag geräumte Bauplatzbesetzung – und in der Folge eine Sprayaktion – gegen einen geplanten Mastbetrieb bei Üfingen/Alvesse, nördlich von Braunschweig.

Der Sommer 2011 begann dann direkt mit zwei weiteren Besetzungen, beide Male im Landkreis Lüchow-Dannenberg. In Schnega blockierte Anfang Juni die Initiative „Ich wollt‘ ich wär kein Huhn“ für einen Tag das Grundstück einer gerade genehmigten Anlage. Nachdem allerdings der ansässige Bauer im Traktor aufs Feld gefahren und seinen Rasensprenger als Wasserwerfer gegen die Besetzer_innen eingesetzt hatte, war die Aktion fürs Erste beendet.

Repressive Ag(g)roindustrielle spielten auch knapp drei Wochen später auf einer Baustelle für einen Mastbetrieb inkl. Biogasanlage in Teplingen eine Rolle. So versuchte sich zunächst die Polizei an einer Räumung des Geländes. Diese vergaß allerdings vier Personen, die sich festgekettet an einem Fass bzw. in luftiger Höhe auf dem Tripod befanden, sodass nach dem Abrücken der militanten Staatsschützer die übrigen rund 15 Campbewohner_innen das Areal zum Abend wieder für sich in Anspruch nehmen konnten.
Dass der sogenannte Eigentümer, der zuvor schon Maststallgegner_innen u.a. massiv bedroht und mit einem Knüppel angegriffen hatte, einen etwas eigenartigen Antispeziesismus vertritt, indem er Gewalt gegen Menschen und Hühner gleichermaßen ausübt, zeigte sich in vollem Maße am folgenden Tag. Offensichtlich verärgert über das Scheitern der Polizist_innen beschloss er zusammen mit ca. 20 (agrarindustriellen) Schläger-Freunden – darunter Mitglieder der bäuerlichen Notgemeinschaft (!) – und deren Traktoren sowie einigen Bauarbeitern mit Baggern die Besetzung in Eigenregie zu räumen. Dies geschah daraufhin in äußerst brutaler Form, sprich u.a. durch den Einsatz von Schlagstöcken und eines Anti-Wild-Verbissmittels (einer Buttersäure ähnlichen ätzenden Chemikalie) gegen die Besetzer_innen. Zugleich wurden mit schwerem Gerät Zelte und Tripods plattgefahren, wobei es nur mit viel Glück keine Schwerverletzen oder Toten gab, sodass durch den Angriff „lediglich“ ein Großteil des Materials zerstört wurde.

Dass mit dieser ungewöhnlichen wie hochgradig gefährlichen Variante einer Räumung die Wut und Leidenschaft der Gegner_innen nur noch gewachsen ist, bewiesen an den folgenden Tagen zahlreiche Soli-Aktionen sowie eine mehrstündige Blockade der Firma Werner in Salzwedel, einer der Baufirmen für Teplingen.

Wietze zu Gorleben – Aktionstage gegen Tierfabriken

Bereits einige Wochen zuvor wurde auch Wietze selbst noch einmal Schauplatz des Widerstands. Vom 9.–14. Juni (Das Pfingstwochenende wurde bewusst in Anlehnung auf das über Pfingsten 2010 besetze Baugelände ausgewählt) fanden in unmittelbarer Nähe zum mittlerweile halbfertigen Schlachthof „Aktionstage/-training gegen Tierfabriken“ statt. Das auf dem Grundstück von Sympathisant_innen errichtete Camp sollte zum einen die Menschen, die im letzten Jahr die Besetzung unterstützt bzw. dort gelebt haben, animieren, sich weiter mit Wietze als Thema zu beschäftigen.
Durch ein breites Angebot an Vorträgen und Workshops, aber auch im alltäglichen Austausch konnten Themenerfahrene genau wie Neueinsteiger_innen Hintergrundwissen und damit Ideen für mögliche zukünftige Angriffsziele, Strategien und Aktionsformen vorantreiben.

Gleichzeitig wurde versucht, den Schlachthof und seine Mastanlagen in den Gesamtkontext mit anderen (geplanten) Tierfabriken zu stellen und bereits bestehende Proteste unabhängig von Unternehmen und ausgebeuteter Spezies zu beleuchten. Dabei bestand die Möglichkeit für Anwesende existierender Widerstandsstrukturen von ihrer Arbeit bzw. über die Projekte zu berichten, gegen die im jeweiligen Fall vorgegangen wird.
Workshops wie (Schnupper-)klettern, Aktionstheater, Lock-On-Bau und Undercover-Recherche machten Appetit auf neue Aktionsformen. Andere transportierten für die politische Arbeit allgemein nützliche Skills wie Repressionen-Basics, Pressearbeit und Prozesstraining.
Ein meist von jonglierenden, vorlesenden oder gitarrenspielenden Aktivistis an abendlichen Lagerfeuern bestimmtes Kulturprogramm sorgte neben einer gut funktionierenden veganen VoKü zusätzlich für ausgelassene Fröhlichkeit und Ausgeglichenheit.
Als Höhepunkt erwies sich zudem ein (echtes) Konzert von Laborinsel, die mit ihrem intelligenten, sozialkritischem „Akustik-Hip-Hop-Liedermaching“ auch ohne Verstärker das Publikum auf ihrer Seite hatten.

Dass an solchen Aktionstagen auch Aktionen vor Ort nicht ausgeschlossen sind, zeigte sich beispielsweise, als ca. 25 engagierte Tierausbeutungskritiker_innen eines Morgens auf einem Spaziergang zufällig an der Schlachthofbaustelle vorbeikamen. Dort bot sich ihnen ein verstörendes Bild. Das zuletzt unbewirtschaftete Gerstenfeld – für Teile der Anwesenden ein knappes Jahr zuvor noch ein idyllisches Zuhause – hatte sich in eine Sandwüste mit einem riesenhaften Klotz in der Mitte verwandelt. Ein Drei-Meter-Zaun, teilweise mit Nato-Draht und unzähligen Überwachungskameras vermittelten genau wie patrouillierende Uniformen mit abgerichteten Hunden den Eindruck von Militärgelände bzw. Hochsicherheitsgefängnis.

Aufgebracht über diese skandalöse Verschandelung der Landschaft, die ab dem Spätsommer zudem noch 135 Millionen Vögel pro Jahr das Leben kosten soll, beschäftigten die Spaziergänger daraufhin für einige Stunden sowohl Bauarbeiter_innen und Security als auch die eilends herbeiströmende Dorfpolizei. Sobald diese festgestellt hatte, dass es sich im vorliegenden Fall nicht um eine Versammlung handelte, die aufgelöst werden konnte, sollte eine Aktivistin auf die Wache, weil sie angeblich durch ein Feld gelaufen war. Da jedoch ansonsten niemensch mit dieser Maßnahme einverstanden war, wurde die Wagentür blockiert, wodurch die Behörden schon nach kurzer Zeit die Lust verloren um wenig später das Geschehen lieber aus einigen Metern Entfernung zu verfolgen.

Der Pfingstmontag schließlich begann für die zum Gottesdienst eilende Bevölkerung mit einem seltsamen Anblick: An ihrem geliebten Rathaus (Arbeitsplatz von u.a. Bürgermeister und Schlachthof-Fan Wolfgang Klußmann) waren ein Fensterglas und die Scheibe der Eingangstür eingeworfen. Daneben prangte in gut lesbarem Rot der Satz „Blut an euren Händen“. Hatte Klußmann versucht in seinem Eifer für unser aller Wohl selbst am heiligen feiertäglichen Pfingsten ins Rathaus zu gelangen, um dort an neuen Plänen für noch mehr Heil bringende Schlachtfabriken zu arbeiten? Hatte er sich dabei vielleicht infolge unkontrolliert splitternder Scheiben selbst an der Hand verletzt? Und hatte ihn dies in seiner grenzenlosen Identifikation mit dem Souverän schließlich dazu veranlasst, das Blut an seinen Händen als das Blut, das demnach an den Händen aller Bürger sei, anzusehen bzw. dies durch die Verschriftlichung seines Zustandes noch zu verdeutlichen?
Die Fragen werden wohl unbeantwortet bleiben...

Wenig fruchtbaren Boden fanden außerdem Diskussionsversuche mit einem in Camp-Nähe feiernden Taubenzuchtverein, „dessen“ mitgebrachte Tauben übereinandergestapelt in engen Drahtbodenkäfigen stark an die zusammengepferchten Vögel in den knapp 400 LKW erinnerten, die demnächst möglicherweise täglich zwischen Schlachthof und den Mastställen hin und her fahren.
Leider konnten die „Tierfreunde“, wie sich teilweise selbst bezeichneten, von Anfang an auf keine einzige Frage ohne (faschistoide) Beleidigung oder Ankündigung einer Körperverletzung antworten, sodass zuletzt ein polizeilich erteilter Platzverweis als Argument herhalten musste.

Für zweifelhafte Unterhaltung sorgte des Weiteren ein roter Kleinwagen mit wahlweise vier oder fünf äußerst fragwürdigen jugendlichen Insassen, deren einzige Beschäftigung schon zu Zeiten der Besetzung darin bestand, scheinbar endlos im Kreis um das Camp zu fahren, Faschomucke auf voller Lautstärke zu hören und hin und wieder entsprechende Parolen und allerlei ähnlichen Stumpfsinn aus dem Autofenster zu brüllen.
Dieses Jahr trauten sich die Möchtegern-Nazis immerhin, Aktivist_innen quer durchs Dorf und in einem Fall bis nach Celle zu verfolgen. Zudem wurde das Zelt eines Camp-Bewohners aus dem Auto heraus gepackt und mehrere Meter über die Straße geschleift, sowie Böller gegen das Haus der Unterstützer_innen geworfen.
Nachdem die Truppe jedoch beim anschließenden um die Kurve heizen nur knapp einen Anwohner mit seiner Enkelin nicht überfahren hatte und dieser die Polizei verständigte, ermittelt die Staatsanwaltschaft nun wegen schwerem Eingriff in den Straßenverkehr und fahrlässiger gefährlicher Körperverletzung.

Alles in allem sollten die Aktionstage u.a. als Plattform dienen, bei der der Austausch von Wissen und Fähigkeiten im Vordergrund steht. Dieses Ziel wurde sicherlich mehr als zufriedenstellend erreicht. Strategien wurden ebenso entwickelt wie Pläne für zukünftigen Widerstand geschmiedet. Wichtig dabei bleibt ein gut vernetztes, kontinuierliches Arbeiten und wohl auch ein gesundes Maß an Penetranz. Kreativität als Waffe und das Entwickeln und (Vor-)leben von Utopien und Alternativen können außerdem dabei helfen, Massentierhaltung als extreme Form der Tierausbeutung und die soziale, ethische und ökologische Katastrophe, die sie ist, in die Köpfe der Menschen zu tragen. Vielleicht sind dann eines Tages auch keine Besetzungen, Blockaden oder Brandanschläge mehr nötig.

Das Mantra der Schlachthof- und Mastanlagenbefürworter_innen von einigen entstehenden (Billiglohn-)Arbeitsplätzen und einer angeblich bestehenden Nachfrage, obwohl der deutsche Hähnchenmarkt nachweisbar mit 104% übersättigt ist, argumentativ zu brechen, ist dabei sicher noch die leichteste Aufgabe.

Tierfabriken zu Baulücken!

Der Schlachthof in Zahlen

  • Betreiber: Firma Rothkötter / Celler Land Frischgeflügel GmbH
  • Schlachtkapazität: 27.000 Tiere / Stunde in zwei Schlachtlinien
  • Wasserverbrauch: 3323 m³ (3.323.000 Liter) / Tag
  • Transporte: 1500 PKW und 386 LKW / Tag bei geplanten 6 Arbeitstagen
  • Subventionen: 6,5 Millionen Euro Fördergelder vom Land Niedersachsen
  • Zulieferer: 484 theoretisch benötige Mastanlagen á 40.000 Tiere im Umkreis von 150 km

Brauchbares zum Thema im Internet:

http://www.antiindustryfarm.blogsport.de (Blog über den Widerstand gegen Eurpoas größte Geflügel-Schlachtfarbik)

http://www.bi-wietze.de (Webseite der Bürgerinitiative Wietze gegen den Schlachthof)

http://www.bauernhoefe-statt-agrarfabriken.de (Netzwerk gegen industrielle Tierhaltung)

http://www.cellerland-frischgefluegel.de (Propaganda…)