2013-02:Schöner leben ohne Knäste

Aus grünes blatt
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Schöner Leben ohne Knäste...?

Trampen. Atomkraftdebatte.

Ja, die Kritik sei schon richtig, aber wo sollte der ganze Strom dann herkommen? Wie? Weniger sollten die Menschen verbrauchen? Ja, aber erstens die Chinesen machen doch eh was sie wollen und außerdem sei das zwar logisch und richtig, den Kapitalismus als Wirtschaftssystem zu überwinden, aber, also, vorstellbar sei es nun wahrlich überhaupt nicht. Ja, ja, schon notwendig, da läge ich richtig, aber eben einfach nicht möglich. Solidarischer Umgang? Nein, das ginge nicht. Also sie persönlich ja schon, aber alle anderen Menschen, die seien einfach quasi genetisch schlecht und böse. Aber an einem selber würde es natürlich nicht scheitern mit der Solidarität, aber die anderen müssten natürlich anfangen und dann seien da ja auch immer noch die Chinesen...


Szenenwechsel- „Gegen Käfige und Knäste“

Das steht auf dem Pullover von wem, der da in der Fußgänger_innenzone Flyer verteilt. Darauf steht was von veganen Burgern und Solipartys für wegen Nerzfarmbefreiungen von Repression betroffenen Menschen. Ich glaube dem, dass er den Spruch ernst meint, aber es bleibt eine gewisse Skepsis. Skepsis, ob in den Zusammenhängen, die beim Soja-Latte-Macchiato über Brandanschläge auf Mastanlagen und Kuchenrezepte reden (was natürlich richtig und wichtig ist) tatsächlich über eine Welt ohne Knäste geredet wird. Die haben schließlich genug ureigene Debatten am Hut. Weil es den meisten Salami-Tiefkühl-Pizza essenden, unpolitischen Volldeppen undenkbar und unvorstellbar und absurd erscheint, dass sich diese Welt auch ohne Mastanlagen und Tiefkühlkadaver weiterdrehen würde, läge auf ihrer Pizza Seitan statt Salami.

Die Liste der unvorstellbaren Utopien ließe sich beliebig fortsetzen. Schon die allerkleinsten Veränderungsvorschläge wirken komplett undenkbar, naiv, weltfremd.


„Ich wünsche mir eine Welt ohne Knäste“

Stille. Pause. Mitleidige Blicke ob meiner Dummheit. Ob ich denn wirklich wollen würde, nein, also, man wolle mir ja nicht zu nahe treten, ich hätte das sicherlich bisher nicht bedacht, die Sache mit den Vergewaltigern. Denn die könnten ja nun wahrlich nicht freigelassen werden, das hätte ich ja sicherlich nicht gemeint...? Und jetzt schauen sie in meine Richtung, suchen Bestätigung, wollen was kleinlautes, entschuldigendes, zurückruderndes, relativierendes. „Freiheit für alle Kinderschänder“・antworte ich. Jetzt ist es vorbei, die Stille weicht fassungslosem Entsetzen, derben Beschimpfungen, Beleidigungen.


Und nun?

Ich will einen Utopietext schreiben über eine Gesellschaft ohne Knäste. Utopische Texte? Da sind die ersten Assoziationen Positivbilder einer Welt, wie ich sie mir wünsche. Utopie beschreiben ist was schönes, was aufmunterndes, etwas was Kraft und Ansporn gibt, weil ich mir ausmalen kann, wofür ich kämpfe. Für eine Welt in der es nicht möglich ist, dass die einen die Folgen ihres Handelns anderen aufbürden, für eine Welt in der Menschen lieben können wen sie wollen, für eine Welt in der ich nicht bei allem was ich esse, trinke, atme und betrete Angst haben muss, vergiftet zu werden. Eine Welt, in der Menschen viel Zeit haben, das zu tun, worauf sie Lust haben, weil der reproduktive Rest an Arbeit überschaubar ist und gemeinsam erledigt wird.


Mein Dilemma:

Die Utopie einer Welt ohne Knäste muss sich mit unbequemen Themen befassen. Sie muss benennen, dass es immer zu Gewalttaten unterschiedlicher Grausamkeit kommen wird. Bei aller Horizontalität und Solidarität, werden doch weiterhin Konflikte entstehen, die Handlungen provozieren, die heute als „Kriminalität“・bezeichnet werden. Ich merke beim Schreiben ein Problem: Ich kann den Weg skizzieren, aber kaum das Ziel. Der klassische utopische Blick, zuerst zu beschreiben, wie ich es gerne hätte, um dann zu fragen, wie ich da hinkomme, funktioniert nicht. Vielleicht ist die Funktion in meinem Kopf bloß eingerostet oder ausgefallen oder wir führen zu wenig Utopiedebatte? Zurück in die Zukunft: Eine Welt ohne Knäste, ohne staatlichen Polizei-, Straf- und Justizapparat. Und da passiert dann all die Scheiße einfach auch, die heute zwischen Menschen passiert...? Puuh, anstrengende Vorstellung. Der Haken: Um eine Welt ohne Polizei, Gerichte und Knäste zu erkämpfen, brauchen wir schon andere Menschen. Es ist eine Frage nach Ursache und Wirkung. Was muss alles schon passiert sein, damit die staatliche Autorität in sich zusammenfällt? Müssen dafür nicht bereits ganz neue Vorstellungen dessen was „gut“・und „wünschenswert“・ist in den Köpfen sein? Ungehorsam, Widerspruch und Dissenz als sowas wie eine neue „Leitmoral“・ Und mit dem Zurückdrängen staatlichen Einmischens in zwischenmenschliche Angelegenheiten ginge womöglich einher, dass Menschen sich mehr zutrauen, mehr von sich halten, selbstbewusster agieren, anfangen zu begreifen, dass es keinen erhöhten Standpunkt gibt von dem aus irgendwer die Welt richtiger oder besser deuten könnte. Dass es ihn nie gab und es eine verdammte Lüge war, uns das einzutrichtern. Wer das erkannt hat, wird den Glauben an Autoritäten verlieren.


Bericht aus Berlin Neukölln aus dem Jahr 2057

Wir haben das längst überwunden mit diesen arroganten Robenträger_innen. Ich will selber drüber diskutieren, wie wir hier im Kiez mit Konflikten umgehen. Und ehrlich: Was hatten wir früher alles verinnerlicht an Scheiße? Weggucken, wegducken, Bullen rufen. Die können das eh besser, die haben das gelernt. Und eigentlich wussten wir es alle auch da schon besser. Die konkreten Erfahrungen mit den Uniformierten waren beschissen. Auf welcher Seite sie standen war klar, Sensibilität und Kompetenz totale Fehlanzeige bei den staatlich bezahlten Gewalttäter in Uniform.

Und die ganzen Eingesperrten, denen wurde erzählt, das sei gut für sie. Als gäb's nen Osterhasen. Nur Regeln und Gewalt und keinerlei menschliche Nähe um dich rum und dann sollst du ein besserer Mensch werden? Die Logik ist echt bekloppt gewesen. Ohne Knäste gibt’s auch viel weniger Kriminalität. Is ja auch klar, wenn ich weniger Anstalten hab, in denen Menschen kaputt gemacht werden, kommen am Ende weniger kaputte dabei heraus. Hat trotzdem ganz schön lange gedauert, bis wir das kapiert hatten.

Wir haben jetzt so Schlichtungsräte. Klingt spießig, ich weiß. Is aber eigentlich OK. Ist auch echt erstaunlich, was es manchmal für Optionen gibt. Früher, da dacht' ich, es gäb nur schwarz und weiß, also gut und böse, gewinnen und verlieren. Aber das ist garnicht so, es gibt viel mehr. Heute sind die Bahnen und Busse umsonst und was die Leute an Substanzen konsumieren is halt ein persönliches Ding. Wenn Leute abstürzen is schon traurig und alles- aber denen hat der Knast ja früher auch nicht geholfen. Also es gibt halt heute keine „Drogenkriminalität“・mehr und die ganzen Knäste voll mit Schwarzfahrer_innen, ich hab gehört, damit waren echt ganze Knäste voll, die wurden als erstes abgeschafft. Aber Scheiße passiert heute natürlich immer noch.


Wie das jetzt hier so läuft?

Ach, so ganz kann ich das garnicht beantworten. Weil wir in den vielen Diskussionen irgendwann darauf kamen, dass die meisten „Verbrechen“・ja eine Vorgeschichte haben, haben wir beschlossen, dass wir da mehr hingucken müssen. Früher schon. Wenn ich jetzt im Park ein Gespräch mitkriege in dem Leute nicht korrekt miteinander umgehen, tu ich nicht mehr so, als würd' ich es nicht hören, sondern mische mich ein. Das ist manchmal echt anstrengend. Aber die Leute haben sich auch geändert, die finden das gut. Also nicht alle, aber viele sind dankbar für das Feedback von außen.

Die Frage nach den Vergewaltigern ist noch offen, ich weiß. Die Leute, die auch Freiheit für die gefordert haben, fand ich immer blöd, weil mir das doch zu weit ging. Aber heute sehe ich das anders. Klar war das ne Provokation und ne befriedigende Antwort hatten die ja auch nie. Aber wir hätten es ohne die nie diskutiert. Wie es heute ist? Wir haben Anlaufstellen für pädophile Menschen aufgebaut, so ein bisschen so wie die anonymen Alkoholiker. Weil wir dachten, dass es vielleicht hilft, wenn wir pädophilen Leuten Möglichkeiten aufzeigen und sie nicht immer bloß rauswerfen. Manchen hilft das, weil sie eine Alternative zum Schämen und Verstecken bekommen haben und zumindest wissen, wo sie sich Hilfe gegen ihre „Krankheit“・holen können. Wenn dann doch Übergriffe oder Vergewaltigungen passieren, gibt es hier nicht immer die gleiche Lösung. Ach was, abschließende Lösungen haben wir ja auch ohnehin nicht. Bei uns hat halt alles mit ganz viel Kommunikation zu tun. Es gibt dann Täterarbeitsgruppen und die treffen sich mit den Opfergruppen. Meistens gibt’ erstmal ne Sofortmaßnahme zum Schutzraum-Aufbau, also dass den „Tätern“・nahegelegt wird, mindestens vorerst wegzufahren. Es gibt so Landtherapiekommuneprojekte, die sich auf sowas spezialisiert haben und wo so Arschlöcher erstmal hinkönnen. Vor den Projektleuten da hab ich echt Respekt, also dass die das versuchen mit so Leuten zu arbeiten. Wenn die Täter da freiwillig hingehen, werden sie erstmal nicht geoutet, um ihnen nicht alle Chancen für später kaputt zu machen. Aber wenn die auf Vorschläge nicht eingehen, dann gibt es Outings. Das ist schon irgendwie auch Strafe. So ganz überwunden haben wir das Konzept Strafe wohl auch noch nicht. Und irgendwie sind wir im Nachhinein auch oft unzufrieden mit unserem Umgang, ist halt alles noch ein langer Weg ...