2015-02:Ohne Ticket - ohne Knast!

Aus grünes blatt
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Ohne Ticket - ohne Knast!

Eigentlich ... ist das „Schwarzfahren“ ohnehin keine Straftat

jb Eine Bestrafung einer_s gekennzeichneten „Schwarzfahrers_in“ ist aus mehreren Gründen nicht rechtmäßig, wobei jeder Grund für sich allein schon reicht. Das Folgende ist also eine Kaskade der Argumentation. Ein Gericht muss alle Punkte ausschließen können, wenn es verurteilen will. Dummerweise sieht die Praxis ganz anders aus. Richter_innen und Staatsanwält_innen sind oft geradezu erbost, wenn sie merken, dass das angeklagte Verhalten gar nicht strafbar ist. Dann wird deutlich, dass es ihnen um Autorität und Strafen als Weltanschauung geht - und nicht um Anwendung des geltenden Rechts

Die erste Möglichkeit zum Freispruch: „Schwarzfahren“ ist sowieso nicht strafbar, weil kein Vermögensschaden entsteht Leistungserschleichung ist ein Spezialparagraph des Betrugsstrafrechts. Solche Vergehen sind aber nur strafbar, wenn ein Vermögensschaden entsteht. Das ist beim „Schwarzfahren“ aber gar nicht klar. Vielmehr ist jeweils offen, ob die_der „Schwarzfahrer_in“ im anderen Fall bezahlt hätte oder nicht gefahren wäre. Wäre Letzteres zutreffend, gäbe es keinen Schaden.

Aus einer Examensklausur WS 2009/2010 an der Juristischen Fakultät der HU Berlin
Die BVG kann gemäß § 249 Abs. 1 BGB verlangen, so gestellt zu werden, wie ohne das schädigende Ereignis. Nach einer Auffassung liegt das schädigende Ereignis im Sinne des § 249 BGB in dem Umstand, dass der S zugestiegen ist (Harder NJW 1990, 857 ff). Nach anderer Auffassung liegt das schädigende Ereignis in dem Umstand des Nichtentrichtens des Fahrtgeldes (Stacke NJW 1991, 875, 877)
Nach der ersten Auffassung stünde die BVG aber nicht anders da als jetzt, da das Verkehrsmittel auch ohne ihn gefahren wäre, so dass ein Schaden nach der Differenzmethode entfällt. Das Verkehrsunternehmen kann nicht verlangen, so gestellt zu werden, wie wenn der ... gezahlt hätte ... Nur wenn der Fahrer des betreffenden Fahrzeuges nachweisbar einen zahlungswilligen Fahrgast hätte zurückweisen müssen, weil ... einen Sitz- oder Stehplatz ohne Fahrkarte eingenommen hatte, wäre eine Schadensersatzhaftung aus unerlaubter Handlung überhaupt denkbar. Dies kommt aber im öffentlichen Nahverkehr nicht vor.

Die Aussage, dass Fahrgäste für „Schwarzfahrer_innen“ mitzahlen, geht davon aus, dass diese sonst zahlen würden. Zumindest viele würden aber stattdessen nicht mehr fahren, d.h. in ihrer Mobilität eingeschränkt. Gleiche Preise für alle bedeutet schließlich immer, dass einige sich das nicht leisten können. Das einzige, was sicher ist, ist dass Fahrgäste für die_en Kontrolleur_in mitbezahlen müssen. Und für Fahrkartenautomaten, große Teile der Buchhaltung, Werbung sowie - anteilig per Steuern - die horrenden Kosten von Strafverfolgung und Gefängnis. Bis zu einem Drittel der Gefängnisinsassen in deutschen Knästen sind wegen Schwarzfahren eingesperrt. Ein einziges sinnloses Gemetzel ... und völlig überflüssig, wenn ÖPNV einfach frei wäre. Stattdessen werden kleine Zettel oder Plastikkarten bedruckt, beworben, verkauft, kontrolliert und die Nicht-Inhaber_innen bestraft - alles unproduktive Tätigkeiten, für die alle mitbezahlen. Strafrechtlich relevant ist, dass bei Zahlungsunwillen oder -unfähigkeit das „Schwarzfahren“ keinen finanziellen Schaden anrichtet, sondern nur Platz wegnimmt, der nicht benötigt wird (Ausnahmen sind Einzelfälle und müssten gesondert bewiesen werden). Ein Gericht muss, wenn mehrere Varianten denkbar sind, entweder die Sache zweifelsfrei klären oder die für den Angeklagten bessere Variante zur Grundlage wählen. Jedes andere Vorgehen wäre rechtswidrig. Das Gericht muss also entweder beweisen, dass eine andere Person wegen der „Schwarzfahrt“ nicht mitfahren konnte oder die angeklagte Person im Falle des Nicht-„Schwarzfahrens“ bezahlt hätte. Sonst ist ein Freispruch unumgänglich, da kein Schaden gegenüber dem Nicht-Fahren entstand. Oder anders - näher an der Gerichtspraxis - ausgedrückt: Eine Verurteilung wäre Rechtsbeugung.


Möglicher zweiter Punkt: Strafbar ist nur die Manipulation oder Umgehung z.B. von Kontrollen

Dieser Punkt ist umstritten. Es gibt Gerichte, die jedes „Schwarzfahren“, welches keine aktive Täuschung beinhaltet, für nicht strafbar halten – also auch ohne Schild. Andere sehen das anders. Einheitlich ist die Rechtsprechung nur bei einer Frage – und dort auch deckungsgleich mit der allgemeinen Sprachauffassung: Wer einen Fahrkartenautomaten manipuliert, über ein Absperrgitter steigt oder sonst aktiv die Möglichkeit, ohne Fahrkarte irgendwo mitzufahren, aktiv herbeiführt, „erschleicht“ im eigentlichen Wortsinn.

Aus Tamina Preuß, „Praxis- und klausurrelevante Fragen des Schwarzfahrens“, in: ZJS 3/2013 (S. 264)
Eine weitere Auffassung fordert, dass der Täter Kontrollen oder Sicherungsvorkehrungen ausschaltet oder umgeht. Gefordert wird eine „betrugsähnliche Handlung“. Dies wird damit begründet, dass der Begriff „Erschleichen“ nach seinem Wortsinn ein „Element der Täuschung oder der Manipulation“ enthalte und § 265a StGB als Auffangdelikt zu § 263 StGB nur betrugsähnliche Fälle erfassen solle. Erst durch ein derartiges Verhalten komme ausreichend kriminelle Energie zum Ausdruck. Der Gesetzgeber habe zwar Strafbarkeitslücken schließen wollen, die durch den Verzicht auf persönliche Kontrollen entstehen, nicht aber Fälle erfassen wollen, bei denen auf eine Kontrolleinrichtung komplett verzichtet wird. Als Beispiele für Erschleichen werden das Einsteigen durch einen nicht zugelassenen Eingang, Verbergen in dem Verkehrsmittel und Überklettern von Sperreinrichtungen genannt.

Unauffälliger, aber noch im Begriff „Erschleichen“ unterzubringen, wäre ein aktives Verhalten, das so tut, als hätte mensch eine Fahrkarte. Wer z.B. etwas anderes abstempelt als einen gültigen Fahrschein, will gerade den Anschein erwecken, als wäre er_sie im Besitz einer solchen. Auch hiergegen gibt es rechtliche Bedenken (Argumentationsstrang Nr. 1 gilt ja weiterhin), aber zumindest vom Begriff her wäre das noch nachvollziehbar. Alles bleibt im Rahmen der naheliegenden, aus dem Gesetzeswortlaut ableitbaren Auffassung, dass „erschleicht“, wer durch eigene Handlung (nicht nur durch Interpretation der Außenstehenden eines Nicht-Handelns) eine Leistung nutzen kann.
Bis kurz nach der Jahrtausendwende - also nicht allzu lange her - war genau das laut Gesetzeskommentaren die vorherrschende Rechtsauffassung. Das deckte sich mit dem allgemeinen Sprachgebrauch. Denn was ist eigentlich „Erschleichung“? Laut Duden bedeutet es: „zu Unrecht, durch heimliche, listige Machenschaften erwerben, durch Schmeichelei oder Täuschung erlangen, sich verschaffen“. In der Formulierung steht eindeutig drin, dass Aktivität („Machenschaft“) nötig ist. „Erschleichen“ bedeutet eine aktive Handlung. An der fehlt es aber, wenn mensch sich nur einfach irgendwo hinsetzt oder etwas betritt. Das Wiktionary erklärt „Erschleichen“ so: „durch Betrug in seinen Besitz bringen“. Als Synonym (also gleich- oder weitgehend gleichbedeutendes Wort) wird dort „ergaunern“ genannt. Auch das zeigt, dass eine aktive Handlung nötig ist. So ließen sich viele Formulierungen finden, die alle in die gleiche Richtung gehen - es kennzeichnet eine Tätigkeit. Unterlassen ist zu wenig.

  • „sich etw. auf hinterlistige Weise verschaffen“ (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, www.dwds.de)
  • „(unehrlich) erwerben“ (Deutsches Rechtswörterbuch c/o Uni Heidelberg)

Eigentlich also klar, doch die Justiz ist eine eigene Welt. Durch die vielen Rechtsverdrehungen der Robenträger_innen, ihre Lust am Strafen und ihre Befürwortung autoritärer Verhältnisse hat sich vor ca. zehn Jahren die neue, inzwischen vorherrschende Rechtsauffassung durchgesetzt, dass „Erschleichung“ auch ohne aktive Handlung möglich ist. Der Dreh: Wer sich unauffällig und passiv verhält, macht gerade das aktiv. Der „Anschein der Ordnungsmäßigkeit“ wurde erfunden. Wer normal nicht agiert, handelt aktiv.

Aus Tamina Preuß, dito (S. 264)
Das Festhalten am „Anschein der Ordnungsmäßigkeit“ führe zu der strafrechtlichen Sanktionierung schlichter Vertragsbrüche. Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips sei es nicht Zweck von § 265a StGB hiervor zu schützen. Der Gesetzgeber habe trotz der Änderungen der Kontrollpraxis den Tatbestand nicht dahingehend reformiert, dass der „Anschein der Ordnungsmäßigkeit“ genüge. Da sich der zahlende Nutzer ebenfalls mit dem (hier zutreffenden) „Anschein der Ordnungsmäßigkeit“ umgebe, liege in der Tathandlung kein spezifischer Unrechtsgehalt. Von einem „Anschein der Ordnungsmäßigkeit“ könne keine Rede sein, denn das Verhalten des „Schwarzfahrers“ sei nicht nur den redlichen Nutzern angepasst, sondern auch anderen „Schwarzfahrern“. Angesichts der hohen „Schwarzfahrerquote“ und der dazu kommenden Dunkelziffer – die „Schwarzfahrerquote“ betrug 2012 bei dem Kölner Nahverkehrsunternehmen KVB beispielsweise 4,7 % – sei ein derartiger Anschein reine Fiktion.

Dabei bietet der Gesetzestext selbst einige Hinweise darauf, dass eine solche Rechtsauslegung rechtswidrig ist. Denn im Paragraphen sind mehrere weitere Handlungen genannt, die als „Erschleichen von Leistungen“ gelten - und bei denen diese Sonderinterpretation weder vorgenommen wird noch möglich ist.

Aus Tamina Preuß, dito (S. 264)
Auch würde eine solche Auslegung zu Widersprüchen innerhalb von § 265a StGB führen, denn bei den anderen Tatgegenständen reiche das Erwecken eines „Anscheins der Ordnungsmäßigkeit“ nicht aus und die Tathandlung sei einheitlich auszulegen. So erschleiche sich der Täter nicht die Leistung eines Automaten, wenn er einen vorhandenen Gerätedefekt ausnutzt, da eine „täuschungsähnliche Manipulation“ gefordert wird, oder ohne Erlaubnis des Telefonanschlussinhaber sein Telefon benutzt, da Abrechnungseinrichtungen oder andere Sicherheitsvorkehrungen umgangen werden müssen.

Doch solche Erkenntnisse halfen bisher wenig. Die kreative Rechtsauslegung der Robenträger_innen hat zu den gewünschten Verurteilungen geführt - aber nur im Einzelfall und, erkennbar, als klare Verdrehung des geltenden Rechts. Alles, was Staatsanwaltschaften und Gerichte zur Beugung des Rechts bisher angeklagt, beschlossen oder geurteilt haben, diente der Verfolgbarkeit von Menschen, die sich einfach ohne Fahrkarte in ein öffentliches Verkehrsmittel begeben haben, um dort mitzufahren. Solche Gerichtsentscheidungen sind offensichtlich abwegig, haben aber fast immer auch eines festgestellt: Wer offen sichtbar „schwarz fährt“, handelt nicht strafbar.
Daraufhin taten das Menschen so, d.h. sie hielten sich - z.T. unter Beibehaltung ihrer Zweifel schon an dieser Rechtsauslegung - genau an die zweifelhaften Urteile. Trotzdem wurde mehrere von ihnen bestraft. Das klingt absurd, ist aber normal im Justizalltag. Widersprüche, Unlogiken und Willkür sind dort alltäglich. Es geht nicht darum, Recht zu sprechen und Gesetze auszulegen, sondern zu disziplinieren. Wenn dafür kein Gesetz nutzbar ist, werden Rechtsgrundlagen einfach erfunden. Es gibt sogar eine besondere Neigung von Robenträger_innen, sich gerade an denen auszutoben, die sich besonders genau mit dem Gesetz auseinandersetzen, um eigene Freiräume - völlig legal - zu schaffen.
Im Folgenden werden nun die besonderen Argumentationsstränge der strafwütigen Gerichte gegenüber gekennzeichnetem „Schwarzfahren“ dargestellt und widerlegt. Es gilt: Je auffälliger, desto sicherer auf der Seite der Straffreiheit ...