2005-02:Der radikale Ausstieg

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Der radikale Ausstieg

Wenig betrachtete Früchte der Revolution von 1989

von Sebastian Pflugbeil

Vor 15 Jahren - am 18.12.1990 - ging der letzte russische Kernkraftwerksblock auf dem Gebiet der alten DDR außer Betrieb. Innerhalb von nur wenigen Monate wurden 6 laufende KKW abgeschaltet, der Bau von 5 weiteren KKW abgebrochen und die Pläne für zwei weitere Standorte aufgegeben. Gründe genug für einen kurzen Rückblick.

Traum und Wirklichkeit

Wie in den anderen Staaten, die Kernkraftwerke betreiben, gab es auch in der DDR in den 50er Jahren abenteuerliche Vorstellungen von der Entwicklung der Kernenergienutzung. 1957 hat Professor H.-J. Hildebrand prognostiziert, daß 1995 auf dem Gebiet der DDR 75 000 MWe Kernkraftwerke laufen würden und im Jahre 2000 weitere 35 000 MWe, das wären insgesamt rund 250 Blöcke vom Typ des russischen 440-MWe-KKW, das in Greifswald gebaut wurde (oder 110 große KKW zu jeweils 1000 MWe ) - die Direktoren hätten sich mit Flaggensignalen untereinander verständigen können. So kurios diese Prognosen heute anmuten - wir sollten dabei nicht die weitreichende Wirkung der damaligen Euphorie unterschätzen. Ich bezweifele stark, daß sich die Energetiker der DDR auf Kernkraftwerke eingelassen hätten, wenn sie damals gewußt hätten, dass tatsächlich nur 4 Blöcke zu je 440 MWe in Greifswald und 70 MWe in Rheinsberg zum Laufen gebracht werden würden.

Von Mitte der 70er bis Mitte der 80er Jahre sanken die Prognosen der IAEA zum weltweiten Ausbau der Kernenergie im Jahr 2000 von 4 500 GWe auf rund 450 GWe, also auf ein Zehntel. In dieser Zeit der Desillusionierung träumten Prof. Flach - Direktor des Kernforschungszentrums Rossendorf und der bekannte Atomspion Klaus Fuchs weiter - Flach meinte, daß "Kernspaltungsenergetik nur eine Episode ist", wenn es nicht "gelingt, den Brutprozeß, d.h. die Umwandlung des (fast) nicht spaltbaren U-238 bzw. Th-232 in spaltbares Pu-239 und U-233 mit genügender Effektivität zu realisieren." Fuchs wollte nach dem KKW bei Stendal (von dem es heute nur eine aufgegebene Riesenbaustelle gibt) mit dem Einsatz der Schnellen Brüter in der DDR beginnen. Die dazugehörige Wiederaufarbeitung war Diskussionsthema in der Akademie der Wissenschaften der DDR, wurde aber weder ernsthaft betrieben noch von den Russen aus der Hand gegeben, die sehr sorgfältig darauf achteten, daß das Atomwaffenmonopol innerhalb des Warschauer Pakts fest in ihrer Hand blieb.

Noch Anfang 1990, angesichts des wirschaftlichen und politischen Zusammenbruchs der DDR, wurden im Wirtschaftskabinett von Frau Luft Energiekonzepte auf den Tisch gelegt, die bis 2000 die Vollendung der Blöcke 5-8 in Greifswald, 3 Blöcke mit je 1000 MWe in Stendal und einen Block mit 1300 MWe westlicher Bauart am Standort "IV" in der Dahlener Heide vorsahen. Danach sollten in Greifswald noch 2x1300 MWe, in Stendal weitere 1000 MWe, am Standort IV weitere 3x1300 MWe und am Standort V zwei Blöcke zu 1300 MWe gebaut werden. Die Chance eines klügeren neuen Anfangs, die in jedem Zusammenbruch steckt, wurde weder erkannt noch genutzt.

Nur kleine Forschungsreaktoren?

Schon 1957 nahm der erste Forschungsreaktor im Zentralinstitut für Kernforschung in Rossendorf den Betrieb auf. Er hatte eine Leistung von 10 MWth und wurde mit hochangereichertem Uran betrieben (36% U-235). Ein Ringzonenreaktor mit einer Leistung von 1 kWth wurde Ende 1962 in Betrieb genommen, er arbeitet auch mit hochangereichertem Uran (20% U-235). Ein kleiner Reaktor für kritische Experimente mit einer Leistung von 10 W ging 1969 in Betrieb, es wurde auf 10% angereichteres Uran verwendet. In weiteren Anlagen AMOR I-III wurden verschiedene Isotope hergestellt, die in der Medizin oder für verschiednee technische Zwecke eingesetzt wurden.

Problematisch sind die hohen radioaktiven Emissionen solcher Forschungszentren. Folgender Vergleich soll davon einen Eindruck geben: Biblis A hat 1985 Jod-131-Emissionen in Höhe von 37 MBq (Millionen Becquerel) verursacht, das KKW bei Greifswald hat 1985 - 4 GBq (Milliarden Becquerel) Jod-131 abgegeben, in Rossendorf wurden 1979 - 381 GBq Radiojod abgegeben (in diesem Jahr gab es mehrere Pannen), 1984 waren es immer noch 174 GBq. Für Edelgasemissionen liegen ebenfalls vergleichbare Daten vor: Biblis A 1985 - 2997 GBq, Greifswald 1985 - 158 360 GBq, Rossendorf 1979 - 233 100 GBq, 1984 - 254 005 GBq. In einer interessanten Dissertation, in der auch die extrem hohen Werte von 1979 enthalten sind, wurde eine Übersicht über die Strahlensicherheitsprobleme gegeben und abgeschätzt, welche Folgen die Emissionen auf die Bevölkerung haben. Teile von Dresden, die von der Anlage der Arbeit mit in die Analyse der Auswirkungen für die Bevökerung hineingehört hätten, sind jedoch ausdrücklich ausgeklammert worden. Warum wohl ? Leider landete die Doktorarbeit - wie viele andere auch - im Giftschrank.

Es gibt Anzeichen dafür, daß es auch in der Umgebung des ZfK Rossendorf überdurchschnittlich viele Leukämiefälle gibt. Möhner und Stabenow haben für die 10-km-Region um Rossendorf 6 Leukämiefälle gefunden, zu erwarten gewesen wären nur 2,84 Fälle. Es wäre sehr wichtig, hier genauere Untersuchungen durchzuführen.

Wenn bei Forschungsreaktoren oder in der Isotopenproduktion hochangereichertes Uran verwendet wird, ist besondere Sorgfalt darauf zu richten, daß von dem hochangereicherten Uran nichts verschwindet - hier wird der Bereich der Weiterverbreitung von Kernwaffen berührt. Aus Unterlagen des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz der DDR und Berichten, die in regelmäßigen Abständen an die IAEA in Wien geschickt wurden, geht eindeutig hervor, daß im Bericht 1986 559g, im Bericht 1987 613g,, 1988 326g und 1989 1034g hochangereichertes Uran als fehlend ausgewiesen werden. In den vorliegenden Unterlagen wird auch erwähnt, daß die IAEA diese Beträge für unerheblich einstuft. Es gibt die Hypothese, daß die Russen Brennelemte mit weniger Inhalt geliefert hätten, als vereinbart worden war. Ob das die alleinige Ursache für die infragestehenden Differenzen gewesen ist, konnte bis heute nicht nachgewiesen werden. Nachdenklich macht, daß Jahre nach der Vereinigung im Januar 1995 auf erneute Pressemeldungen über diesen Sachverhalt sowohl die IAEA als auch Prof. Häfele, die zentrale Figur in den Nachfolgestrukturen des früheren ZfK Rossendorf, nichts von dieser Geschichte wissen wollen Kleine Reaktoren und Forschungszentren müssen sorgfältiger, als das bisher der Fall ist, bezüglich der durch sie verursachten Umwelt- und Gesundheitsbelastungen behandelt werden.

Aufbau, Betrieb und Stillegung der KKW in der DDR

Die folgenden Angaben stammen aus der Feder handverlesener Fachleute aus verschiedenen Institutionen der DDR, die vom Vorsitzenden des Ministerrates im Jahre 1982 in die Ständige Kontrollgruppe Anlagensicherheit (SKG) berufen wurden (Die Berichte der SKG sind heute in den Unterlagen des Ministerrates der DDR im Bundesarchiv in Potsdam zu finden). Damals gab es den zweifellos richtigen Eindruck, daß die Sorgfalt der Betreiber der KKW zu wünschen übrig ließ und daß das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz nicht stark genug war, alleine erfolgreich auf Ordnung, Qualität, Sicherheit und Strahlenschutz zu drängen. Die von der SKG in der Zeit von 1982 bis 1989 verfaßten 15 Berichte waren als Staatsgeheimnis deklariert, also keinesfalls zur Veröffentlichung bestimmt. Sie gingen direkt an die Regierung. Die Sachlichkeit, die scharfe Kritik und der hohe Geheimhaltungsgrad dieser Berichte sprechen für deren hohen Wahrheitsgehalt. Anfang 1990 hat der Verfasser als Minister in der Modrow-Regierung nach Unterlagen über die Nutzung der Kernenergie in der DDR gesucht und u.a. diese Berichte gefunden, studiert und - heimlich kopiert. So anerkennenswert diese Berichte auch aus heutiger Sicht sind, so scharf werden beim Lesen der Berichte Fragen an die Autoren:

Ihr habt alle diese Mängel genau gekannt - wie konntet ihr tolerieren, daß diese gefährlichen Anlagen so lange unbehelligt weiterbetrieben wurden? Hättet ihr nicht reden müssen? Diese Frage spitzt sich noch zu, wenn man sich an das Bild von der Kernenergie erinnert, daß von Regierungsvertretern, Aufsichtsbehörde, Betreibern und Fachleuten in der DDR gemalt wurde - sicher, sauber, billig, ordentlich - kritische Fragen? Panikmache, vom Klassenfeind eingeflüstert!

Auf einer dritten Ebene stellen sich Fragen, wenn solche Fachleute heute eine vergleichbare Rolle in den analogen Institutionen des vereinten Deutschland spielen - zu den aktuellen Schwierigkeiten der Kernenergienutzung in gewohnter Weise schweigen oder sie verleugnen, die Probleme der KKW der alten DDR jedoch so locker bestätigen, als hätten sie das schon immer getan.

Ist es nicht auch fragwürdig, wenn sich heute Fachleute aus der West- und aus der Ost-Hälfte gemeinsam daran beteiligen, daß russische Reaktoren im Ostblock zurechtgebügelt werden, die für unsere eigenen Kinder zu gefährlich, in Deutschland nicht zurechtzubügeln oder genehmigungsfähig wären ?

1960 sollte in Rheinsberg das erste KKW in der DDR ans Netz gehen - mit sechs Jahren Verspätung nahm der Reaktor des Typs WWER-70 mit einer Leistung von 70 MWe den Betrieb auf. Der Sicherheitsstandard war schon während des Baus der Anlage vergleichsweise niedrig. Er wurde in einer einfachen Leichtbauhalle aufgestellt - es gab keinerlei Schutz vor verirrten russischen Militärmaschinen, die in unmittelbarer Nähe stationiert waren, kein Containment. Das Notkühlsystem müßte heute Kühlmittelverluste aus einer Leckfläche von rund 4000 cm2 ausgleichen können - in Rheinsberg war es für eine maximale Leckgröße von nur 50 cm2 ausgelegt. Trotz mehrfacher komplizierter Pannen wurden nach zwanzigjähriger Betriebszeit 1986 nocheinmal umfangreiche und kostspielige Rekonstruktionen durchgeführt. Die SKG schätzt ein, daß "kein grundsätzlich höheres Sicherheitsniveau erreicht" wurde (SKG, 1987). Im Sommer 1990 wurden bei einer Generalinstandhaltung Riße im Bereich des Reaktordruckbehälterdeckels gefunden. Das war das Ende.

1973, 1975, 1978 und 1979 wurden die Blöcke 1 bis 4 des Kernkraftwerks "Bruno Leuschner" bei Greifswald in Betrieb genommen. Es handelte sich um Russische Druckwasserreaktoren vom Typ WWER-440/V230, von denen 10 weitere Blöcke in Russland, Armenien, CSFR und Bulgarien stehen. Anders als in der Öffentlichkeit wird in zahlreichen internen Berichten des SAAS und der SKG wiederholt ganz offen zugestanden, daß der Sicherheitsstandard deutlich unter dem westlicher KKW liegt. Block 5 - eine etwas verbesserte Variante des 440-MW-Reaktors war 1990 fertig, ging aber wie die in unterschiedlichen Stadien aufgegebenen Blöcke 6,7 und 8 nicht mehr ans Netz.

Es hat während der ganzen KKW-Geschichte Versuche von Seiten des SAAS und später der SKG gegeben, die Probleme anzusprechen und auf Lösungen zu drängen. Sie waren nicht stark genug. Dagegen standen die "Freunde", die daran wenig Spaß hatten und der Parteiapparat, der den Bau der KKW als Prestigeobjekt behandelte, bei dem interessanter war, an einem runden Feiertag einen Startknopf drücken zu können, als eine Schweißnaht sauber auszuführen. Die Stasi hatte im KKW eine eigene Struktureinheit, die einerseits versuchte, die Russen in den zwangsläufig anfallenden Debatten über Sicherheitsprobleme in Schutz zu nehmen, die andrerseits über ihre Verbindung zum Ministerium für Staatssicherheit bemüht war, grobe Entgleisungen in den Bereichen Arbeitsmoral und Qualität zurechtzudrücken.

Ordnung, Sauberkeit, Qualifikation, und Qualität

"Mindestanforderungen an Ordnung und Sauberkeit werden nicht durchgängig erfüllt, und elementare Verstöße gegen Grundregeln der Qualitätsarbeit insbesondere mit austenitischem Material treten auf." (SKG 7, 1985) Aus Austenit sind nicht die Sanitäreinrichtungen sondern die Hauptumwälzleitung im Primärkreislauf des Reaktors!

"Es häufen sich Fälle, wo Fertigmeldungen ohne vorangegangene Kontrollen bestätigt werden und deshalb Mängel spät festgestellt werden und zu abnahmebehindernden Restarbeiten führen." (SKG 9, 1986) "...Qualitätsmängel... Diese Mängel führen teilweise zu erheblichen Störungen des Bau- und Montageablaufs ...und stellen Verstöße gegen allgemeine Regeln der Technik und der Qualitätssicherung dar (Umgang mit Austenit, Sauberkeit an den Arbeitsplätzen)" (SKG 8, 1986)Immer wieder wird harsche Kritik an der Qualifikation der Leiter und des Instandhaltungspersonals formuliert.

"Eine nicht ausreichende Zahl an wissenschaftlich qualifizierten Leitern auf den verschiedensten Leitungsebenen ..." (SKG 6, 1985)

Auch in den KKW-internen Technischen Jahresberichten wird immer wieder auf Probleme dieser Art hingewiesen - besonders alarmierend, daß wiederholt die "Bedingungen des sicheren Betriebs" nicht beachtet - d.h., daß Betriebs- und Sicherheitsvorschriften ignoriert wurden. (Erinnern wir uns kurz an Tschernobyl.)

"Beeinträchtigung der Qualität der Anlagen entstehen auch durch schlechte Materialqualität und konstruktive Mängel der Armaturen der DDR-Produktion. Sie beeinflussen sowohl die Sicherheit als auch die Verfügbarkeit der Kernkraftwerksblöcke negativ." (SKG 8, 1986)

"Durch projektmäßig nicht vorbereitete und unkoordinierte Verlegung von Rohrleitungen kleiner Nennweite ist die Zugänglichkeit von Ausrüstungen und Rohrleitungen für Kontrolle, Wartung und Reparatur erheblich beeinträchtigt." (SKG 8, 1986)

Im Block 5 wurden während des Baus 50 000 Projektänderungen durchgeführt. "Eine wichtige noch nicht fertiggestellte Aufgabe ist die Erarbeitung der Dokumentation über die 50 000 durchgeführten Projektänderungen und alle Werkstoffdaten." (SKG 15, 1989)

"Es treten häufig Veränderungen des Nullpunktes und der Kennlinien ein, wodurch die zuverlässige Auslösung von Sicherheitsfunktionen beeinträchtigt werden kann, die durch diese Geräte erfolgt. Das betrifft ca. 760 sicherheitsrelevante Meßkanäle, von denen sich ca. 100 direkt im Havarieschutzsystem des Reaktors befinden." (SKG 14, 1989)

"... daß die 6-kV-Leistungskabel ausgetauscht werden müssen und daß 50% der insgesamt 48 km Steuerkabel fehlerhaft sein können." (SKG 10, 1987)

Nadelrohre

Die am Greifswalder Bodden gebauten russischen Reaktoren verfügten über zwei Kreisläufe. Der Primärkreislauf stand unter hohem Druck (ca. 12,3 MPa), enthielt Wasser mit einer Temperatur von 270-300°C und war radioaktiv verunreinigt. In Dampferzeugern wurde mit der Wärme des Primärkreislaufs Dampf für den Sekundärkreislauf erzeugt, der dann die Turbinen antrieb, wie in einem konventionellen Kraftwerk. Mit den Dampferzeugern waren viele technische Probleme verbunden, von denen hier nur eines erwähnt werden soll: In den 6 Dampferzeugern eines jeden KKW-Blocks wurde das heiße Wasser des Primärkreislaufs mit großer Gewalt durch 33 200 fingerstarke Rohre - die Nadelrohre - gepreßt. Man versteht sofort, daß diese Nadelrohre (auch Siederohre genannt) sehr starken Belastungen ausgesetzt sind.

"Eine zuverlässige Aussage über den derzeit bestehenden tatsächlichen Zustand der korrosionsgeschädigten Dampferzeuger ist z.Zt. nicht möglich, da die erforderliche Werkstoffprüftechnik nicht zur Verfügung steht. ... Die Notwendigkeit des Einsatzes einer speziellen Werkstoffprüfung im KKW "Bruno Leuschner" Greifswald ist seit Jahren erkannt." (SKG 1, 1982)

"Nicht befriedigen kann die Situation hinsichtlich der Prüftechnik für die Werkstoffe der Hauptausrüstungen des 1. Kreislaufs. Die SKG bewertet den ungenügenden Stand der Werkstoffprüfung und die Versäumnisse bei der Entwicklung bzw. Beschaffung der Prüftechnik sowie bei der Erarbeitung der Grundlagen zur Fehlererkennung und -bewertung als sehr nachteilig für die Gewährleistung des sicheren und zuverlässigen Betriebes der Kernkraftwerke ... Die Spannungsrißkorrosion am Kollektor stellt eine Gefährdung der nuklearen Sicherheit dar. Lecks im Kollektor können nicht beherrschbare Störfälle verursachen, die zu unzulässigen Strahlenbelastungen und zu schweren Zerstörungen im Kernkraftwerk führen können." (SKG 2, 1983)

"Alle (ca. 1000) am Block 1 untersuchten Siederohre wiesen Korrosionsschädigungen, allerdings unterschiedlicher Tiefe, auf. 275 Rohre in den sechs Dampferzeugern des Blockes 1 wurden auf Grund des festgestellten Schädigungsgrades bzw. durchgehender Risse vorbeugend verschlossen. An den geprüften Siederohren der Dampferzeuger des Blockes 4 wurde beginnender Korrosionsangriff ... vorgefunden. ... Darüber hinaus erlangen mit der Möglichkeit des gleichzeitigen Reißens mehrerer Siederohre während des Betriebes zunehmend Sicherheitsprobleme Bedeutung." (SKG 5, 1984)

"... zeigten alle geprüften Siederohre der Dampferzeuger der Blöcke 1 und 2 Korrosionsschäden unterschiedlicher Anzahl und Tiefe." (SKG 7, 1985)

Zur Dampferzeugerbox von Block 5: "Sie ist, ..., durch Rohrleitungsführungen aller Art derartig verbaut, daß Zugänge, Begehbarkeit, Wartung, Instandhaltung, Brandbekämpfung u.Ä. äußerst kompliziert werden. Grundlegende Änderungen sind trotz vorgenommener Verbesserungen nicht möglich." (SKG 10, 1987)

Ende 1989 waren in Block 1 899 Nadelrohre defekt und verschlossen, in Block 2 waren es 495, in Block 3 81 und in Block 4 wurden 52 Nadelrohre gesperrt. Zur Bewertung des Nadelrohrproblems muß man wissen, daß das Notkühlsystem dieser Reaktoren so dimensioniert war, daß es den Kühlwasserverlust durch ein Leck mit einem Querschnitt von 10 cm² ausgleichen konnte. Die Nadelrohre haben einen Querschnitt von 1,4 cm² - das bedeutet, daß im ungünstigsten Fall (2F-Bruch) schon die Zerstörung von nur 4 Nadelrohren, in jedem Fall aber ein oder zwei Dutzend gleichzeitig defekter Nadelrohre das Notkühlsystem überfordern würde. Das heißt Kernschmelze, Zerstörung des Reaktors, Freisetzung ungeheurer Mengen an Radioaktivität.

Nur am Rande sei hier darauf aufmerksam gemacht, daß die Konstrukteure den Abriß einer Hauptumwälzleitung im Primärkreislauf nicht bedacht haben. Diese massiven Rohre haben einen Innendurchmesser von 50 cm, damit einen Querschnitt von 2000 cm² - das Notkühlsystem kann aber nur den Abriß von Leitungen mit einem Innendurchmesser von maximal 3,6 cm oder einem Querschnitt von 10 cm² ausgleichen. Erst 1988 haben sich die Russen ernsthaft mit dem Abriß der Hauptumwälzleitung befaßt - sie mußten festellen, daß der Abriß wahrscheinlicher ist, als sie bis dahin angenommen hatten - es erfolgte die hilflose Empfehlung, deutlich sorgfältiger und öfter zu kontrollieren.

Sprödbruchbelastung des Reaktordruckgefäßes

Der Reaktordruckbehälter der WWER-440-Reaktoren war ein etwa 12 m hoher Zylinder mit einem Durchmesser von rund 4 m, er bestand aus niedriglegiertem Cr-Mo-V-Stahl. In diesem Behälter steckte der Reaktorkern, in dem die Spaltprozesse abliefen. Der Druckbehälter mußte den o.g. hohen Belastungen standhalten. Besonders beansprucht worden wäre der Druckbehälter beim An- und Abfahren, stärker noch, wenn das Notkühlsystem angesprungen wäre. Dann wäre kaltes Wasser in den heißen Druckbehälter gepreßt worden - es wäre zu starken Spannungen aufgrund der Temperaturdifferenz gekommen. Es ist aus dem Bereich der Küche (hoffentlich) hinreichend vertraut, was passiert, wenn man kaltes Wasser in eine Glasschüssel schütten, die auf dem Herd steht. Wenn der Reaktor neu ist, reagiert der Stahl des Druckgefäßes auf solche Temperaturdifferenzen elastisch. Problematisch wird es erst, wenn die Neutronen, die bei der Kernspaltung freigesetzt werden, längere Zeit die Druckgefäßwand bombardiert haben - dadurch wird der Stahl "spröde", also empfindlicher gegen Temperaturschocks. Die genauen Daten sind abhängig von der Zusammensetzung und Reinheit der Stahllegierung. Bis 1990 lagen diese Angaben von russischer Seite nicht vor. Auch andere übliche Verfahren, die Veränderung des Druckgefäßstahls verfolgen zu können, wurden nicht eingesetzt.

"Die Stahlversprödung der Reaktordruckgefäße der Blöcke 1 bis 4 erfolgt schneller, als vom sowjetischen Konstrukteur bei der Projektierung und Herstellung angenommen." (SKG 6, 1985)

"Die vorhandene Versprödung der Reaktordruckgefäße der Blöcke 1 bis 4 des KKW "Bruno Leuschner" wird von der SKG als sehr ernstes Problem eingeschätzt. Berechnungen der bei bestimmten Störfällen, die im Projekt berücksichtigt wurden, im Reaktordruckgefäß auftretenden Spannungen zeigen, daß insbesondere bei Block 1 bereits ein kritischer Zustand erreicht ist." (SKG 7, 1985)

"... Maßnahmen zur Gewährleistung der Sprödbruchsicherheit schnellstmöglich zu realisieren. Diese Maßnahmen müssen. obwohl bei Block 1 vordringlich, bei allen vier Blöcken eingeführt werden." (SKG 7, 1985)

"Die SKG schätzt die eingetretene Versprödung der Reaktordruckgefäße der Blöcke 1 bis 4 als bisher schwerwiegendste Beeinträchtigung der Sicherheit und möglichen Lebensdauer der Kernkraftwerksblöcke ein." (SKG 8, wenige Wochen nach Tschernobyl, Aug. 1986)

"In die Untersuchungen sind auch schwere Störfälle einzubeziehen (z.B. Bersten des Reaktordruckgefäßes." (SKG 9, Okt. 1986)

"Am Block 1 ist die Versprödung soweit fortgeschritten, daß die verringerten Belastungsgrenzwerte bei bestimmten Störfällen überschritten werden könnten. ...Die SKG weist mit Nachdruck darauf hin, daß die Wiederinbetriebnahme von Block 1 nach Abschluß der Kampagne 1986/87 ohne Realisierung der vorgesehenen Rekonstruktionsmaßnahmen nicht vertretbar ist." (SKG 10, 1987)

"Die für das Jahr 1987 geplanten Rekonstruktionen in den Blöcken 1 bis 4 wurden nur teilweise realisiert. ... Der Weiterbetrieb des Blockes 1 erfolgte auf der Grundlage einer auf 1988 befristeten Ausnahmegenehmigung des sowjetischen Hauptkonstrukteurs..."(SKG 12, 1988)

"Langfristig ist dafür (für die Verbesserung der Sprödbruchsicherheit, d.A.) die Entwicklung eines neuen Reaktordruckgefäßes erforderlich." (SKG 13, 1988)

Als es 1990 um das Überleben des KKW Greifswald ging, spielte die Sprödbruchsicherheit eine wichtige Rolle. Deshalb wurde bei der Firma Siemens ein Gutachten in Auftrag gegeben, das einen unverfänglichen Titel hatte: "Berechnung der minimalen Wassertemperatur im RDB-Ringraum zu vorgegebenen Transienten". In dem Gutachten wird zurechtgerechnet, daß beim Einspeisen von kaltem Notkühlwasser in den heißen Reaktordruckbehälter das kalte Wasser sich auf dem Weg zur heißen Stahlwand so stark mit dem heißen Kühlwasserrest vermischt, daß es mit der Sprödigkeit des Druckbehälterstahls keine Probleme geben wird. Brisant ist das Deckblatt, dort steht geschrieben:

"Der Inhalt dieses Berichts und seine Ergebnisse dürfen für Rekonstruktionsmaßnahmen an Blöcken des KKW Greifswald oder für die Entscheidung über eine Wiederinbetriebsetzung bzw. einen Weiterbetrieb einzelner Blöcke des KKW Greifswald nur mit unserer vorherigen ausdrücklichen schriftlichen Zustimmung verwendet werden." Das klingt zwar eigenartig, aber warum soll man sich nicht darauf einlassen. Dann geht es aber weiter: "Diese schriftliche Zustimmung kann von uns erst dann erteilt werden, wenn wir in Besitz einer für uns akzeptablen staatlichen Freistellungserklärung sind, aufgrund deren Siemens, ihre Unterauftragnehmer und Lizenzgeber, einschließlich Personal, von einer Haftung für Schäden aufgrund eines nuklearen Ereignisses im KKW Greifswald vollumfänglich durch die DDR freigestellt sind, unabhängig davon, wo und in welcher Höhe solche Schäden entstanden sind." Mit diesem Satz haben wir einen nahtlosen Übergang von der Geschichte der Kernenergienutzung in der DDR zur Gegenwart der Kernenergienutzung im Vereinten Deutschland.

Block 5 wurde aus dem Probebetrieb am 29.11.89 abgeschaltet, Block 2 am 15.2.1990, Block 3 am 28.2.1990, Block 4 am 1.6.1990 und zuletzt ging Block 1 am 18.12.1990 vom Netz.

Alle die hier zitierten geheimen SKG - Berichte wurden von Prof. Sitzlack, dem Präsidenten des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz unterzeichnet. 1988 werden vom SAAS die Texte der DDR-Delegation für eine UN-Konferenz zur Förderung der Internationalen Zusammenarbeit bei der Friedlichen Nutzung der Kernenergie (23.3.-10.4.1987) veröffentlicht. Im Vorwort werden die Konferenzergebnisse zusammengefaßt - dort steht u.a. "Die langjährigen Betriebserfahrungen und die Schlußfolgerungen aus den KKW-Unfällen in Tree Mile Island und Tschernobyl belegen, daß Kernkraftwerke und andere Kernanlagen sicher betrieben werden können ...". J. Krämer trug dort für die DDR vor: "Vorschriften und Einrichtungen zur Überwachung von Materialien und Komponenten, die konsequent angewendet werden, schließen praktisch einen plötzlichen Komponentenfehler in den Kernkraftwerken der DDR aus." D. Richter berichtete auf dem gleichen internationalen Kongreß: "Die bisherigen Erfahrung in der DDR zeigt, daß das bestehende Regierungssystem zur Kontrolle von Atomsicherheit und Strahlenschutz sich als wirksam erwiesen hat..." - die Ständige Kontrollgruppe Anlagensicherheit, die oben mehrfach zitiert wurde, kommt in seinem Beitrag nicht vor.

Die in den Archiven des Ministerrates aufgefundenen geheimen Unterlagen wurden im Auftrag des Zentralen Runden Tisches in kürzester Zeit zu einem Gutachten verdichtet, an dem Helmut Hirsch (Hannover), Norbert Meyer (Greifswald), Sebastian Pflugbeil (Berlin), Detlev Rieck (Greifswald), Michael Sailer (Darmstadt), Prof. Klaus Traube (Hamburg) und Ilse Tweer (Hannover) mitarbeiteten. Die Zeiten waren damals so, daß ein Anruf genügte, diese Gruppe von Fachleuten aus Ost und West zusammenzubringen, niemand dachte an ein Honorar, an Reisespesen. Die beiden Greifswalder Kollegen arbeiteten damals noch im KKW, sie verloren nach ihrer offenen Darstellung der Probleme ihren Arbeitsplatz. Das Gutachten hat durch die Veröffentlichung der Vielzahl sonst geheim gebliebenen Details über irreparable Sicherheitsmängel der russischen Reaktoren einen nicht unwesentlichen Anteil an der Stillegung aller Kernkraftwerke auf dem Boden der alten DDR - wenn auch der tatsächliche Beschluß zum Abschalten von anderen getroffen wurde.

Quellen beim Verfasser