2008-02:Keine deutsche Affäre: Unterschied zwischen den Versionen

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== MASSE, HERDE, HORDE, GRUPPE ==
 
== MASSE, HERDE, HORDE, GRUPPE ==
  
Die Figur des Unbekannten Soldaten ist eine ohne Individualität. Die Anonymität des Kollektivwesens
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Die Figur des Unbekannten Soldaten ist eine ohne Individualität. Die Anonymität des Kollektivwesens machts sie zu einer Figur des Kults der "Großen Mutter". Das menschheitsfrühe, vorabrahamitische Individuum war im Kollektiv ausgelöst. Dieser frühe traditionsgeleitete (Riesman) Mensch war Herdenwesen durch und durch. Dennoch war er intelektuell und moralisch nicht degradiert. Die Barbara seines modernen Gegenübers war ihm fremd, und in nichts ist jenes frühe Kollektiv mit der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" vergleichbar.
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Zivilisation braucht Kult und kann sich diesen nicht in einem Warenhauskatalog aussuchen. Kult hat den Affen und das sehr große Hirn zu versöhnen und zu energetisieren. So muß Kult auf entsprechendes archetypisches Material zurückgreifen, das zudem an die vorherrschende (Re)Produktionsweise anknüpfen können muß. In dem jeweils Gegebenen hat der Mensch sich einzurichten. In der Morderne ist solches Einrichten von Zurichten abgelöst worden, von behaviouristischen Konditionieren.
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Die Arbeiten des Nordamerikaners Lawrence Kohlberg beleuchten die Folgen für den moralischen Status des modernen Menschen, dessen Barbarei allenfalls durch brüchige gesellschaftliche Konventionen beschränkt ist. Das Barbarische des menschheitsfrühen Kollektivs war hingegen im Opferkult sakral engehegt und konnte deshalb nicht in den Alltag ausgreifen. Jenes letztere war durch innigliche sozio-ökonomische Kooperation bestimmt. So betitelte Neumann das frühe Kollektiv als "Gruppe" und grenzte es damit gegen die zeitgenössische, durch Fehlen von verantwortliche sozialer und emotionaler Bindung ihrer vereinzelten Angehörigen ausgezeichnete Masse, Herde, am zutreffendsten jedoch Horde ab. In diesem Sinnewird der Alltag der Gruppe als überaus zivilisiert erkennbar. Wohingegen die Horde sozio-ökonomisch flach und punktuell kooperiert, wie es in der Lohnarbeit zwingend vorliegend ist - jegliche Lohnarbeit zwingend vorliegend ist - jegliche Lohnarbeit, kapitalistische wie auch sozialistische, setzt Zurichtung voraus. Bindungen kommen dort zufällig zustande, sind nicht dauerhaft und jederzeit aufhebbar. Belegschaften gleichen Horden, wie sie sich in Katastrophen und Fluchtsituationen bilden.
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Horden lassen ihre Toten liegen, Gruppen bestatten sie. Die moderne Masse gleicht einer in örtliche und zeitliche Dauer gezwungenen riesenhaften Horde. Bestenfalls schichtet sie das Gebein zehntausender Opferjünglinge zu einem Haufen auf, und wenn sie deren sterbliche Überreste nicht liegen lassen kann, verbrennt sie diese zu Asche, welche in einem nahegelegen Fluß "entsorgt" wird - so geschehen im nationalsozialistischen Europa. Neumann markierte das moderne Kollektiv entsprechend als ''re''kollektiviert, womit er auf dessen retroartigen Charakter, auf dessen Freaknatur, hinwies. Das moderne Kollektiv ist aus einer abrahamitischen Zivilisation hervorgekommen und vor diese zurückgefallen, in ein zivilisatorisches Nichts. In der Lohnarbeit vereinzelt und von Zurichtung intelektuell und moralisch degradiert, kann der moderne Mensch allenfalls versuchen, Unterhorden zu bilden, z.B. in Parteien und Gewerkschaften oder religiösen Sekten. Eine Gruppe kann sich - zumindest tendentiell - erst wieder bei wilden Streiks, weiterarbeitenden besetzten Betrieben, militärischer Guerilla oder in solchen alternativen Projekten formieren, die auf dauernden und festen Zusammenhalt hin anelegt sind. In diesem Zusammenhang ist auf den unvorstellbar erfolgreichen europaweiten Ordensverbundvon Cluny hinzuweisen. Offenbar war Cluny eine Gegenreaktion zu den im Gefolge der Wikingereinfälle und der dadurch kollabierenden sozio-ökonomischen Struktur sich einstellenden sozialen Verhordungen. Cluny entstand quasi aus dem Nichts. Jenes "Projekt" gelang, wohl weil es sich in keine vorhandene Machtstruktur einbinden wollte und sich stattdessen einer Utopie verpflichtete, die weit und offen war. Dennoch war sie in der Wirklichkeit verankert, indem sie diese erschuf. Das heute verbreitete dauerhafte Refugium von Gruppe ist windig, die Kleinfamilie. Nicht duch sozio-ökonomische Kooperation unterlegt, ist sie ebenfalls ein sozialer Freak, der sich auf das Biologisch-Genetische, auf die brüchige Krücke "Abstammung" stützt. Der Familien- bleibt Hordenmensch. Allein das matialische Gewaltgehabe von Führern kann Horden flüchtige Struktur verleihen.

Version vom 19:04, 22. Jul 2008

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Keine deutsche Affäre

Klassik, Romantik und der weltweite politische Kampf um eine Grundlegung menschheitlicher Zivilisation(en)

Werner Braeuner In der taz vom 27.09.2007 findet sich ein bemerkenswerter und mit "Blaue Blume gleich Flower Power" überschriebener Beitrag von Ulrich Gutmair, der die jüngste Buchveröffentlichung von Rüdiger Safranski rezensiert und diskutiert. Dessen "Romantik. Eine deutsche Affäre", Hanser Verlag, München 2007, liegt hier zwar nicht vor, allerdings kann das von Gutmair mit wenigen klaren Strichen in der taz ins Bild gesetzte bestens in das im folgenden Vorzustellende einführen.

U.G.: "Safranskis Buch ist (...) als eine Verteidigung der Romantik gegen die harte ideologische Linie der 68er, die Kunst durch Sozialromantik ersetzten, und zugleich als vorsichtige Verteidigung ihrer enthusiastischen Motive zu lesen." Doch offenbar reißt R.S. wesentliche Aspekte seines Themas lediglich an der Oberfläche an. Gutmairs Rezension verweist da zunächst auf das an Klassik und Romantik Auffallende, ihre jeweiligen Parteigänger in allen politischen Lagern und Richtungen finden zu können. Die sich unter den Fahnen von Klassik und von Romantik jeweils zusammenfindenden politischen Lagerkoalitionen sind buntester Kompott. Dies allein muß die Absicht Safranskis und seines Buchs halsbrecherisch erscheinen lassen. Der Rezensent bringt dafür etliche Belege bei.

"Romantik. Eine deutsche Affäre" ist auf Anhieb ein Bestseller geworden. In ernüchterten Zeiten gewinnt das Wort Romantik allein schon Anziehung. Ernüchternd das Ende jenes Napoleon aus Ostwestfalen-Lippe bzw. jenes von sich selbst so genannten "Projekts", Rot-Grüns. R.S. sieht einen solchen Zusammenhang nicht. Obschon jener dies, so mutmaßt der Rezensent, als wohl zu starr wahrgenommen haben wird, hat der Buchautor mit folgendem Wort abgegrenzt: "Hier Literatur, Kunst, Philosophie, dort Politik." Ohne diese Wehr müßte R.S. wohl in den Verdacht des Tröstenwollens geraten, stellt er doch 68 in die Nachfolge der Romantik, Rot-Grün in die von 68 ein. Letztere Nachkommenschaft ist zwar nicht in seinem Buch behauptet, das R.S. mit 68 hat enden lassen, allerdings behauptet er sie in zahlreichen Interviews nach dessen Erscheinen. Attestiert das Buch den Romantikern, sie eigneten sich "nicht sonderlich für die Politik", klingt das nun mit Blick auf jene Interviews unweigerlich wie ein "Es kam mit Rot-Grün, wie es mit Romantikern nun einmal kommen muß!" Originalität ist von Tröstungen nicht gefordert.

Womit R.S. sich einigen Spott des Rezensoren einträgt, der solchem Trösten eine ironische Note entgegenhält und auf Peter Hacks verweist, einen entschiedenen Parteigänger der Klassik. Hacks habe Goethe, Heine, Napoleon und Stalin allesamt in der Frontlinie der Klassik verortet und den romantischen Widerpart als zugleich konservativ und ultralinks geschmäht. Ein Ball, den der Rezensent flugs auf R.S. zurückspielt. Ultralinks sei Rot-Grün gewesen, indem jene "wahrscheinlich bürgerlichste deutsche Regierung nach Kriegsende mit Hartz IV gleichzeitig damit begann, sozialistischen Vorstellungen von Gerechtigkeit den Garaus zu machen". Auch Peter Hacks entgeht dem Rezensenten nicht und wird gnadenlos aus dem Sattel seiner felsenfesten Gewißheiten geworfen. Hacks habe "die Romantik ganz richtig verstanden". Allerdings "aus den falschen Gründen". Denn wird nur das rot-grüne Selbstverständnis einmal zu Rate gezogen, ist jene Regierung gleichermaßen gut mit dessen Definition des Klassischen beschrieben. Das nämlich, so Hacks, stehe für die Herrschaft der Vernunft, für Vorrang der Form, für Mitte, Ordnung und all jenes, was Goethe zufolge "stark, frisch, froh und gesund" sei - dies alles Attribute, die Rot-Grün ohne Abstriche für sich hätte in Anspruch nehmen können! Zumal derzeit ein naiv-gutes doch knallhart vernünftiges Bürgermädchen mit Massenenteignung und Zwangsarbeit klassisch stalinistische Politik treibt und damit lediglich fortsetzt, was ein burschig-romantischer doch knallhart moderner Kanzleramtsusurpator und -imperator zuvor begonnen hat.

Klassik und Romantik lassen sich modernen politischen Protagonisten nicht eindeutig zuordnen. Sollen jene beiden historischen Strömungen nicht als politisch völlig inhaltsleer und bedeutungslos abgetan werden, müßte der Moderne entweder das eine oder das andere zugewiesen werden - insgesamt! R.S. teilt mit, um welche Krone da gestritten wird; Gutmair schreibt: "Obwohl Safranski sich im zweiten Teil seines Buches, das sich der Karriere des Romantischen vom Kaiserreich bis zur 68er Bewegung widmet, gegen die These wendet, es sei dem politisch Reaktionären gleichzusetzen und gar für den Nationalsozialismus verantwortlich, so reproduziert er doch dauernd das alte Klischee, wonach die Romantik eine tendentiell vernunftfeindliche Vorliebe fürs Extreme, Impulsive, Dunkle und Träumerische gewesen sei." Sein Buch sei letztendlich von der Frage angetrieben, ob sich extremistischer Überschwang mit vernünftiger Politik verträgt". Safranski zufolge, liebe das Romantische die Extreme, "eine vernünftige Politik aber den Kompromiß". "Vernunft"! Wo bitte ist da die Definition! Mit schwammigen Begriffen läßt sich alles behaupten und beweisen. Und es lassen sich solche Begriffe wunderbar als beliebig anzustrahlende Projektionsflächen nehmen, hinter denen sich ungesagt bleiben Sollendes viel wunderbarer noch verbergen läßt. Offensichtlich soll "Vernunft" hier als Platzhalter für das moralisch Gute und für das moralisch Verantwortliche herhalten und zugleich verdecken, was wirklich gemeint ist: Operationale Logik, eine Logik von optimierten Handlungsabläufen, eine reine Zwecklogik. Die aber ist von allem Guten und Verantwortlichen per Definition und per se freigestellt. Begeht der Teufel, vor Vergnügen prustend, eine Missetat, tut er dies gewöhnlich und in aller Regel im Rahmen einer sauberen Operationalen Logik. Das thematisiert eine deshalb hier zu erwähnende französische cineastische Produktion aus den 50ern, welche die protoklassische literarische Figur des Dr. Faustus unter dem Titel "La beauté du diable", Die Schönheit des Teufels, ausleuchtet. Ist das "Starke, Frische, Frohe und Gesunde", mit dem sich der Teufel einen Dreck um das moralisch Gute und Verantwortliche schert, etwa jene von der Klassik bejubelte "Vernunft"? Als Ahnung zumindest scheint dies auch in Thomas Manns letztem und ebenfalls mit Dr. Faustus betitelten Roman durch. U.G. hat die Frage nach der "Vernunft" ganz vorsichtig so formuliert: "Muß man sich zumindest die Früh-Romantik aber nicht vielmehr als philosophische Bewegung vorstellen, deren Programm über die damals vorherrschende cartesianischen Vorstellungen von der Dualität von Körper und Geist und dessen mechanistisches Weltbild weit hinaus wies, also den Rationalismus zu erweitern suchte?" ...Operationale Logik also um Vernunft zu erweitern suchte, soll jene Frage präzisiert werden.

Displaced person namens Gott

Auf obige Frage hatte der von R.S. unter die Romantiker gezählte Nietzsche eine einfache Antwort. Mit Blick auf Cartesianismus bzw. den großen Geistesaufklärer René Descartes erhob Nietzsche den Vorwurf: "Ihr habt ihn getötet!" Gemeint ist Gott. Als Descartes "Ich denke, also bin ich" formulierte, meinte er damit "Ich denke operational logisch, also bin ich eine Maschine". Nietzsche stellte dem ein "Ich lebe, also denke ich" entgegen und meinte damit: Ich lebe als Fleisch, also denke ich vernünftig!

Descartes glaubte, alles Reale funktioniere operational logisch, was sich sodann in menschlichem Geist widerspiegeln müsse. Da er weiter glaubte, alles Reale müsse von Gott geschaffen sein, zog er daraus den Schluß, auch Gottes Geist müsse operational logisch funktionieren. Ja, Gott müsse reiner operational logischer Geist sein. Und sobald nun etwas operational logisch denken könne, müsse es von Gott geschaffen sein. Darum sei operational logisches Denken zugleich auch moralisch gut. Ein Beiprodukt des Cartesianismus ist die Erschaffung von etwas, das immaterieller, reiner Geist sei.Damit hat er nicht allein zwei voneinander völlig verschiedene Sphären geschaffen, sondern auch Gott überflüssig gemacht. Denn Gottes Denken und Wollen "stecke" in der Sphäre des Dinglich-Materiellen. Und da sich Gottes Denken und Wollen so auch im menschlichen Geist widerspiegele, sei es vom Menschen vollständig zu kennen. Gott konnte gehen, er wurde nicht mehr gebraucht. Nietzsches Gegenposition ist simpel: Sobald Operationale Logik sich gegen das Leben oder gar zerstörerisch gegen den Menschen wendet, sei sie moralisch schlecht, gleichgültig ob die Operationale Logik dabei vor Vergnügen prustet oder ernst, nachdenklich oder ein wenig traurig ausschaut wie ein Sozialdemokrat.

Operationale Logik war Nietzsche nicht vernünftig genug. Vernunft könne es nur da geben, wo Leben für sich selbst Partei ergreift! Im Zeitalter der Moderne nährt sich die gesellschaftliche Praxis aus dem Wahn, der Mensch könne sein wie Gott, da der Mensch den göttlichen Willen erkennen bzw. nachvollziehen könne: Operationale Logik. Gott wird allenfalls noch als moralischer Leumund und sittliche Staffage benötigt, weswegen moderne Staaten nicht auf die Kirchen verzichten möchten. Was aber war das für ein Gott, der sich mit solch einem billigen Trick wie dem von Descartes hatte in die Flucht schlagen lassen? Warum hatte Gott sich nicht gewehrt? Warum ließ er sich "töten"? Diesem Geheimnis suchte Nietzsche auf die Spur zu kommen und er untersuchte die Religion jenes hasenfüßigen Gottes, das Christentum. Nietzsche fand, die Religion dieses Gottes habe von Beginn an auf seine Vertreibung hingearbeitet und sich mit dem Zeitalter der Moderne völlig erfüllt. Denn von Anbeginn an sei der christliche Gott ein Feind des Lebens gewesen. Im Zeitalter der Moderne erfülle sich der Wille dieses Gottes, alles Leben zu vernichten.

Nietzsche war dabei ein durch und durch materialistischer Denker, allerdings war ihm nicht Materie, Descartes' "Ding", sondern das Lebendige das zu befragende "Material". Aus seinem "Ich lebe, also denke ich" läßt sich fugenlos ein "Wie ich lebe, so denke ich" ableiten, und sofort und unmittelbar gerät Marx in den Blick. Doch nicht mit dem vielzudeutenden Marx wird hier im weiteren erörtert werden, was "Vernunft" sei und wer sich ihre Krone aufsetzen dürfe. (über Marxens Vieldeutigkeit siehe: Moishe Postone, "Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neuartige Interpretation der Marxschen Kritischen Theorie der kapitalistischen Produktionsweise", ca ira Verlag, Freiburg 2003). Ein anderer und weithin unbekannter Autor kann eindeutigere Auskunft geben, der im Jahre 1934 nach Palästina geflüchtete Berliner Arzt und Psychologe Erich Neumann (1905-1960) bzw. zwei seiner Buchveröffentlichungen, "Ursprungsgeschichte des Bewußtseins" sowie "Tiefenpsychologie und neue Ethik", beide erstmals im Jahre 1948 veröffentlicht.

WAS DIE ZIVILISATION IM INNERSTEN ZUSAMMENHÄLT

Peter Hacks, so faßt U.G. zusammen, hielt die Romantik für eine "Stimmung gegen eine aufgeklärte und vernünftige Ordnung", und wenn ein Franz Müntefering im aktuellen innerparteilichen Reformstreit um sie Agenda 2010 bzw. im Rahmen der Inszenierung Kurt Becks als sozialeren sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten zu Protokoll gibt, "die Agenda nicht liegen lassen, das ist eine vernünftige Expedition" (taz vom 2./. Oktober 2007, Seite 6), geht es ihm wie auch Hacks um etwas offenbar Großes, die "Vernunft", und damit noch offenbar ums Ganze, ums Große Ganze also: um die Zivilisation und ihre Bewahrung. Müntefering glaubt, dazu sei "Vernunft" vonnöten. Vielleicht ja, doch Sicherlich nicht die, die er meint: Operationale Logik. Sie ist das letzte, an das mit Blick auf die Bewahrung von Zivilisation zu denken ist!

Die großen und langlebigen historischen Zivilisationen haben sich nicht durch "Vernunft" gehalten sondern durch Kult. So Kult nun Partei für das Leben ergreift, indem er Zivilisation bewahrt, ist er etwas Vernünftiges. Doch wer sagt, daß es sich bei solchem Kult um einen um Vernunft oder gar um "Vernunft" handeln müsse?! Überdies ist "Vernunft" eine historisch äußerst junge Erfidung. Doch ist der kult der Moderne nicht, wie rechte Denker gern behaupten, ein "Kult der Vernunft". Vielmehr ist der Kult der modernen Zivilisation einer zur Erzeugung von psychischer Energie, die handlungsfähig macht, ohne sich dabei auf die konkreten Gegebenheiten menschlichen Lebens und seiner Wirklichkeit beziehen zu müssen. Erich Neumann nannte dies einen "Bewußtseinskult", der auf beliebige Zwecke hin handlungsfähig macht, und dies permanent. Allerdings seien jene beliebigen Zwecke lediglich Mittel, Mittel um jenen Kult betreiben zu können. So hat da nicht etwa der Kult der Zivilisation zu dienen - indem er sie bewahrt -, sondern es hat die Zivilisation dem Kult zu dienen, den Kult zu bewahren! Bei Elektromotoren lassen sich die beiden Pole vertauschen, und er läuft dennoch. Bei Zivilisationen etwa auch? Sicherlich nicht. Besonders nicht, wenn dazu die Lebenswirklichkeit durch eine Simulation ersetzt werden muß. Simuliert wird eine operational logische Welt, die aus Zahlen und Daten besteht, die aus Kaslkaden hierarchisch angeordneter Rechenverfahren gewonnen werden, die wiederum einer Operationalen Logik folgen. Es hat diese Simulation eine einzige Schnittstelle zur Wirklichkeit, indem die mit den operational logischen Rechenverfahren gewonnenen Daten auf die Messung einer einzigen in der Wirklichkeit wahrnehmbaren Handlung fußen, nämlich auf der Messung der Anzahl von Waren in einer Zeit. Real sind dabei allein die Ware und der Mensch, der sie produziert. Alles andere bleibt unberücksichtigt bzw. muß sogar als störend wahrgenommen werden. So selbst der Mensch, sobald er das Meßergebnis beeinflußen möchte.

Bewußtseinskult läßt den Menschen zu einem Störfaktor werden, der nur geduldet wird, so lange er für die Aufrechterhaltung des Kults unersetzlich ist. Wo liegt in einem solchen Kult die Vernunft? Offensichtlich wehrt ein dauernd hochgespanntes und handlungswaches Bewußtsein mißliche seelische Empfindungen oder Zustände ab. Wer in dem Wahn lebt, nun die Stelle Gottes eingenommen zu haben, mag solche Zustände selbstverständlich nicht haben, sie konterkarieren eben jenen Wahn. Besonders gilt dies, wenn gesehen wird, daß dieser Gott eigentlich ein Maschinenbauingenieur gewesen ist. Nur wache und operational logische Maschinenbauingenieure können Gott sein! Offensichtlich handelt sich beim Bewußtseinskult um einen der gesellschaftlichen Funktionseliten. Sie allein benötigen "Geist". Die Angehörigen der Nichtelite haben den ihren vielmehr aufzugeben und den göttern zu schenken, indem sie Hand in Hand, Hirn und Nerven bis zum möglichen Maximum vorausgeben. Ihr Leib soll in "höhere", in abstrakte Werte "vergeistigt" werden. Ob ihnen das gelingt, läßt sich anhand einer Zahl messen, die an der Spitze der Kaskade aller Rechenverfahren steht: am Profit. Vergeistigung von Leib wird in der christlichen Religion als Wandlung oder Transsubstantiation bezeichnet. In der christlichen Kultfeier geht der Geist des Sonnengottes Christus in ein Stück Brot ein, wird so Leib. Allerdings vollziehen göttliche und proletarische Wandlung sich in die jeweils umgekehrte Richtung. Bei Gott und Geist zu Leib, beim Proletarier und Siemens-Angestellten von Leib zu Geist. Letzterer kann dabei die Form von Lohn oder von Profit annehmen. Profit ist hierbei die Opfergabe an die Götter. Wie zu sehen ist, beruht dieser Kult auf der dualistischen Spaltung in Leib und Geist. Wie bei René Descartes. "Vernunft" und "Aufklärung" sind etwas Christliches.

Was nun muß die Zivilisation für den Wunsch der Götter bezahlen, mißliche seelische Zustände wie Ängstlichkeit, beklommenheit, Mißmütigkeit, Melancholie oder gar Anwandlungen von Faulheit oder Inspiriertheit abzuwehren? Was kostet diese Flucht nach vorn in die permanente Handlungsfähigkeit? Sie kostet den Blick auf die Lebenswirklichkeit, und so können apokalyptische Katastrophen unbemerkt heraufziehen. Siehe die großenkapitalistischen Weltkrisen, Eruptionen von politischem Wahn und von Massenvernichtungen, die atomaren Bedrohungen und Umweltzerstörungen. Vielmehr scheinen letztere für die Eliten Götterdoping für einen handlungswachen Geist zu sein. und so verwandelt sich der Lebensalltag von immer mehr Menschen in eine nicht enden wollende Katastrophe, wie Naomi Klein dies aktuell in ihrem Buch "Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus" beschreibt. Tatsächlich erklärlich werden Kapitalismus und Moderne allein, wenn sie als aus dem Christentum hervorgekommen begriffen werden; aus dem Christentum kommt der Dualismus, aus diesem der Bewußtseinskult.

DIE ERSCHAFFUNG DER ZIVILISATION

Kapitalismus, die Moderne, muß sich wie alle andere Zivilisation auf Kult stützen. Kult allein verleiht Zivilisationen Dauer. In aller Regel, über die Ausnahme wurde soeben gesprochen. Diese Ausnahme zwingt zu der Frage, was Menschen dazu führt Zivilisationen überhaupt einzurichten. Auf diese einfache Frage gibt es ein paar einfache Antworten, die sich alle unter die selbe Überschrift der Parteinahme für das Leben stellen lassen. Am Anfang war das Kalkül. Jenes der militärischen Sicherheit durch die große Zahl. Zivilisation ist zu Beginn eine vernünftige Expedition. Kult wird nicht gebraucht. Doch wer danach noch vernünftige Expeditionen fordert, meint damit wie Franz Müntefering allenfalls Strafexpeditionen, um den arbeitslosen Wilden kapitalistischen Kult aufzuzwingen. Müntefering will Kultstörfaktoren ausschalten, nicht für den Kult verfügbare Menschen. Er möchte die störenden Leiber unter zeitliche und örtliche Kontrolle bringen und sie wenigstens Lohnarbeit simulieren lassen, den Kult. Für einen, der noch nie in der Lebenswirklichkeit sondern allezeit in deren Simulation durch Zahlen und Daten gelebt hat, eine einfache Sache: Weiterbildungen, Trainingsmaßnahmen, Zwangsarbeitsgelegenheiten etc. Immerhin kann der arbeitslose Wilde so von allen Regungen des Leibes, vor allem von den unreinen Bestrebungen nach einem Leben in der Lebenswirklichkeit und da vor allem in freien Kooperationen in selbstorganisierten sozialen Zusammenhängen gereinigt werden. Fleisch werde Geist, reiner Geist! Die heidnischen Wilden sollen dem Beispiel des christlichen Sohngottes folgen und auf ihren Leib und seine Bestrebungen verzichten, ihn aufgeben. Kapitalismus ist ein missionarischer Kult.

Ist Geist im Dualismus etwas Reines, legt das nahe, Leib als unrein zu nehmen, zumal er Bestrebungen zu seiner Vergeistigung offenbar Widerstand entgegensetzen möchte und er deshalb zum Guten gezwungen werden muß. Den Leib ald böse zu nehmen, ist da nur logisch. Wird Leib gegen Geist zu Gut gegen Böse weitergesponnen, wird Dualismus zu Manichäismus. Die Manichäer waren eine Strömung, die etwa um das Jahr 1000 erstmals in Europa aufgetaucht ist und den menschlichen Leib als Teufelswerk sah (er widersetzt sich operational logischen Beweisführungen, die ihn unter Zwang stellen wollen). In diese Strömung zählen ebenfalls die Katharer und Albigenser. Das Papsttum bekämpfte sdie und rottete sie aus. Dies vor allem, weil diese "Ketzer" die römische Kirche nicht anerkannten und deren Macht untergruben. Wenn von dieser machtpolitischen und militärischen Auseinandersetzung abgesehen wird, ist der religiöse Unterschied zwischen Dualismus und Manichäismus alledings lediglich graduell. Im Christentum gehen beide fließend ineinander über. Dieser Übergang spiegelt sich in dem von einer bürgerlich liberalen BRD hin zu einem Gesetz und Verfassung offen mißachtenden Regime.

Friedrich Nietzsche (1844-1889/1900)

"Die moderne Form von Herrschaft ist eine von Sklaven über sklaven," und "Chridtentum ist Sklavenreligion par excellence" waren die zentralen politischen Aussagen Nietzsches. Der Medizinhistoriker Heinrich Schipperges unterstreicht in "Am Leitfaden des Leibes. Zur Anthropologik und Therapeutik Friedrich Nietzsches", Klett Verlag, Stuttgart 1970, die anti-dualistische Positionjenes zu seinen Lebzeiten ungemein populären Denkers, der das christenum als Institutionalisierung dualistischer Weltsicht betrachtete. Nietzsche, der sich verbat, als Philosoph bezeichnet zu werden, uns behauptete, niemals sei ihm auf einem Stuhl sitzend je ein nur halbwegs braucharer Gedanke gekommen, benanne als zweites großes Kalkül, das nach Zivilisaion rufen muss, die Abwehr des Absurden und Entsetzlichen von Schicksal und Zufall. Die Furcht vor plötzlichen furchtbaren Ereignissen - schwere Krankheit, Verunfallung, Naturkatastrophen, Krieg, Gewalt - lege sich zermürbens auf die seele. In "Die Geburt der Tragödie" beschreibt Nietzsche die Entstehung jener Bühnenform in der Antike und zeigt die die antike Tragödie als ein Gegengift, das die Furcht vor der Gewalt von Schicksal und Zufall bedämpfte. Komme das Absurde und Entsetzliche nah an den Menschen heran, gelänge ihm ein zupackendes und bejahendes Leben und die wohlwollende Zuwendung zu seinen Mitmenschen nicht mehr. Zivilisation und das sich in ihr entfaltende bunte Getriebe und kulturelle Leben würden solcher Gefahr wehren und mithin seelische Stabilität stützen. Solche Stabilität ist aber Voraussetzung für operational logisches Denkvermögen und mithin für Handlungsfähigkeit und Alltagsbewältigung. Zu deren Gewährleistung ist ein Bewußtseinskult - Nietzsche sprach von "Vernunftsreligion" - demnach nicht vonnöten und im Gegenteil schädlich, da er zur Zerstörung von Zivilisation führt. Mehr noch sei die Vernunftsreligion daher als Beleg zu nehmen für ein bereits fortgeschrittenes Abgekränkeltsein von Zivilisation. Bewußtseinskult ist die Krücke eines Kranken. Dessen Krankheit hat Nietzsche diagnostisch identifiziert. Begegnet einer einem Großen, fühlt er sich womöglich klein und wird bewundern. Der bei solcher Begegnung aufatmet, wird sich hingegen entspannt zurücklehnen. Nun fällt an Goethes Aufzählung des "stark, frisch, froh und gesund" das Fehlen des "frei" auf. Mit den Begriffen Nietzsches wird Goethe ein der Vernunftreligion huldigender "Sklavenmensch". Vernunftreligion idt extremistischer Dualismus. Dualismus ruht auf einer Geringschätzung des Leibes. Diese hilft Sklaven, ihre Sklaverei zu ertragen. Das irdisch-leibliche Leben wird abgewertet, ist "falsches Leben". Das "richtige" Leben ist reiner Geist. Dies ist der Denkansatz für alle "Dekadenz". "Vernünftig betrachtet, ist die Vernunft des Sklavenmenschen schlicht Operationale Logik, ein Werkzeug, ein Mittel, das Leben ermöglicht. Ohne dies Werkzeug läßt sich nicht einmal eine Mahlzeit zubereiten. Der Sklavenmensch erhebt jenes Werkzeug zu einem Zeck, zum Zweck des Lebens. Daß der Zweck des Lebens das Leben selbst sei, erscheint Skklavenmenschen als ein zu gefährlicher Gedanke. Auf dieser Verkehrung von Mittel und Zweck, die eine Verkehrung der allereinfachsten und der grundlegendsten Lebensbegebenheiten ist, ruht ein großes und komplexes Gebäude von Ansichten, Meinungen, Vorstellungen, Überzeugungen und Glaubenssätzen, das Nietzsche "Sklavenmoral" nannte. Jene Moral macht Freiheit zu etwas Anrüchigem. Darum fehlt es in Goethes Aufzählung der Charakteristika des Klassischen das Adjektiv frei. Stark, frisch, froh und gesund hingegen darf ein Sklave ohne weiteres sein. Dann gefällt er seinem Herrn. Denn wonach sollte der auf dem Sklavenmarkt sonst Ausschau gehalten haben?! Bejubelt einer jener "großen aufgeklärten Geistesmenschen der Klassik", bejubelt ein Goethe das Starke, Frische, Frohe und Gesunde, ist das ein, ist das ein traurig-irres Besingen jener "Fähigkeit" der herrschenden Sklaven, das Leben geringzuschätzen. Und sich selbst. Ihr leibliches Leben. Bewußtseinskult bzw. Vernunftreligion haben jene Fähigkeit zu ihrer Voraussetzung. Aus Bewußtseinskult und Geringschätzung des Leibes erwächst die "Herrschaft von Sklaven über Sklaven".

Neben jener Vernunftreligion sah Nietzsche im Zeitalter der Moderne eine zweite Religion am Werke, die ebenfalls aus dem Christentum bzw. dem Dualismus hervorgekommen sei. Sei "Vernunft" die Religion der herrschenden Sklaven, sei die Religion der Arbeit die der beherrschten. Selbstverstänslich sind diese beiden Religionen nicht scharf voneinander getrennt. Zwischen den bewußtseinskultigen Funktionseliten und dem arbeitskultigen Nichteliten steht z.B. der "Geistesarbeiter", je nachdem, welches der drei Hauptelemente des Leibmaschinchens - Hand, Hirn odeer Nerven - mehr oder weniger verausgabt wird. Beide Religionen entstammen dem selben Dualismus von Körper und Geist. Beide Religionen sind verweltlichtes christentum. Doch allen Sklavenmenschen, seien es herrschende oder beherrschte, ist die selbe Sklavenmoral eigen.

Vor dem Zeitalter der Moderne war jene Sklavenmoral im Christentum religiös befestigt. Nachdem der Cartesianismus bzw. die "Aufklärung" Gott vertrieben hatten, mußten die Zwillingsreligionen von "Vernunft" und Arbeit sowie die ihnen zugehörige Sklavenmoral im Weltlichen befestigt bzw. legitimiert werden. Hatte das Christentum Erlösung von allen Absurden und Entsetzlichen des Zufalls und des Sklavenschicksals durch Aufgabe des Leibes und Erringung eines jenseitigen Heils in Aussicht gestellt, gab die Moderne nun das Versprechen ab, durch "Vernunft" und Arbeit Heil im Diesseits erlangen zu können: die Befreiung von Armut, Krankheit, Dummheit, Roheit, Gewalt und Tyrannei. Hier auf Erden. Später. Aber bald. So will die Moderne nicht weniger, als vom Absurden und Entsetzlichen von Zufall und Schicksal zu befreien. Sie will das tun, was Aufgabe von Zivilisation ist. Sie will Zivilisation durch ihre beiden Kulte ersetzen, durch Bewußtseins- und Arbeits- bzw. Körperkult. Denn wie immer werden Mittel und Zwek verkehrt. Kult, der nie anderes als Mittel zum Zweck der Zivilisationen sein kann, soll nun Zivilisation, den Zweck ersetzen! Damit erklärt sich das Zeitalter der Moderne als eines der Anti-Zivilisation.

Zivilisation entstand aus einem Lebenssicherungskalkül und nimmt so Partei für das Leben. Nun aber soll das Leben dem Kult dienlich gemaxht werden, da er zum Zweck des Lebens erklärt worden ist. Hier gerät das gegen das Leben gerichtetete Wertergefüge von Klassik und Moderne in den Blick. Leben, das dem Kult nixht dienlich gemacht werden kann, wird zweckloses Leben und darf dann beliebig getötet werden. Im Nationalsozialismus traf dies Menschen, die demokratischen Regime beschränken sich - wie an Tierversucheen zu sehen - auf das, was für Leib an und für sich steht, auf das Tier. So ist der Kult der Moderne immer zugleich auch Todeskult. Der einzige Sinn und Zweck von Zivilisation wird mithin konterkariert, indem sich das Absurde und Entsetzliche nun wieder bis auf Armlänge nähern kann und den Alltag durchzieht. Eine solche Zivilisation ist dem Untergang geweiht, da sie die seelische Stabilität der ihr Angehörenden untergräbt, aller ihr Angehörenden!

Obwohl bis ins letzte widerlegt, wird bis heute hin behauptet oder nahegelegt, Nietzsche sei Rassist gewesen (dies z.B. in der FAZ vom 02.10.07, Seite N3, "Nachbarn am Nichts" von Felix Johannes Krömer) oder gar Antisemit. Mindestens sei er in der Nähe eines Ernst Jünger zu verorten und also ein rechtskonservativer Ideologe gewesen. Und immer wieder wird von einer Geisteskrankheit Nietzsches fabuliert. Nietzsche war von der Syphilis getroffen, eine über Jahrzehnte fortschreitende Infektionskrankheit, die spät schließlich das Gehirn angreift. Demenz tritt ein. Diese setzte Nietzsches Schaffen im Jahre 1889 ein vorzeitiges Ende. Die bis zu seinem Tod im Jahre 1900 verbleibenden Jahre pflegte ihn erst seine Mutter und danaxh seine Schwester Elisabeth. Gesellschaftlich hoch ambitioniert, nutzte diese Antisemitin, welche ihr Bruder mit Verve verachtet hatte, die Geschäftsunfähigkeit des Demneten, um in seinem Namen zu veröffentlichen. So entstand das berüchtigte Machwerk "der Wille zur Macht" aus sinnentstellend aneinandergereihten flüchtigen Notizen ihres Bruders, in denen Elisabeth unmittelbar inhaltlich fälschen mußte, um sie sich passend zu machen (z.B. wurde "hündisch" zu "jüdisch" und vieles andere mehr). Mit ihren rassenpolitischen Projekten zuvor in Südamerika auf das blamabelste gescheitert, wollte Elisabeth die immense öffentliche Reputation ihres Bruders an sich und ihre politische Position ziehen. Über die Einzelheiten siese Kriminalfalls gibt Mazzino Montinari in "Nietzsche lesen" Auskunft. Auf Einladung der Regierung der Regierung der DDR konnte Montinari viele Jahre lang Nachforschungen im Manuskript-Archiv des Weimarer Nietzsche-Hauses anstellen, die etwa um 1980 herum abgeschlossen werden konnten. In diesem Zusammenhang bedarf Nietzsches Konzept des "Übermenschen" Erwähnung, das sich auf dem Hintergrund der Tätigkeit Elisabeths in der öffentlichen Wahrnehmung verzerren mußte. Jenes nicht individuelle sondern zivilisatorische Konzept wird hier weiter hinten im Text erörtert.

Welche politischen Positionen lassen sich aus dem nun wiederhergestellten bzw. dem rekonstruierten Nietzsche ableiten? Mit diesem werden z.B. die Taliban als Modernisierer erkenbar. Politisch, ökonomisch und sozial zuvor weitgehend selbstorganisiert und selbstbestimmt gelebt habende Handwerker, Hierten und Bauern werden derzeit zu den Religionen der Arbeit und "Vernunft" bekehrt. Von den Taliban. Das Islamisch-Religiöse ist Deckmantel für ein Zurichtendes Leibes. Nachdem die zu Bekehrenden durch Krieg und Zerstörung zunächst entwurzelt wurden - die "Schockstrategie" Naomi Kleins - werden ihnen nun Hand, Hirn und Nerven in Korandchulen und militärischen Ausbildungscamps gedrillt, um so auf die Disziplin von Lohnarbeit und Fabrik hin zuzurichten. Das ist Modernisierung, genau das. Naxh und nach werden die Taliban ein "Afghanischer Gewerkschaftsbund" werden und dann wie die deutschen Hütehunde des Kapitals sein, wie der DGB, und nach dessen heimlichem Motto verfahren, das da lautet "Disziplinieren. Verhorden. Verblöden. Weiterbilden. Wir richten zu.". Nach selbem Muster ist es im Iran Khomeinis gelaufen, dessen Ziehsohn Ahmadinedschad eine in islamische Rhetorik gewandete doch durch und durch klassisch sozialdemokratische und duch und durch klassische Politik betreibt.

DAS ABRAHAMITISCHE EMANZIPATIONSVERSPRECHEN

Zivilisation beginnt mit jenem einfachen operational logischen Kalkül militärischer Sicherheit durch die große Zahl. Sie schützt vor dem schicksalhaften Zufall von räuberischem Überfall, nithin gegen Gewalt, Vergewaötigung und Zerstörung. Solche Sicherheit schafft zugleich seelische Stabilität und mit dieser Voraussetzung für klares und ruhiges Denken, für Operationale Logik und also für erfolgreiche Alltags- und Lebensbewältigung. Aus diesen Anfängen sind nch und nach Staaten entstanden. Dazu der Biologe, Geograph und Historiker Jared Diamond in einem Interview, das die FAZ am 06.07.2007 veröffentlichte: "Bis vor 7000 Jahren waar die Menschheit in Stämmen organisiert, erst vor 5000 Jahren sind die ersten Staaten moderner Prägung entstanden. Das Zusammenleben in Stämmen prägt unsere Kultur noch immer stark. sie (gemeint ist der Interviewer; Hervorhebung durch W.B.) sind in mein Privathaus gekommen, und wir haben uns nicht sofort den Kopf eingeschlagen, sondern uns die Hand gereicht. Wenn man in Stammesesellschaften einen Fremden trifft, tötet man ihn oder man läuft weg oder man beginnt ein langes Gespräch darüber, ob man irgendwelche Verwandten teilt, um einen Grund zu haben , sich nicht zu töten. Erdt deit kurzem geht die Entwicklung in Richtung Händeschütteln.

Sklave und Herr

Komplexere gesellschaftliche Organisationsstrukturen führen zu komplexeren Institutionen. Damit bildet sich Arbeitsteilung stark aus. Die damit entstehenden Führungspositionen sind sakraler oder funktionale, alltäglich-profaner Natur. Im Militärischen entstehen mit den funktionalen Führungspositionen unmittelbar gewaltbasierte formale Hierarchien. Verflechten sich militärische Hierarchien mit den sozialen, ökonomischen oder sakralem, durchdringen sie diese mit Gewalt, und "Staaten moderner Prägung" entstehen (siehe Kurt Mendelssohn, "Das Rätsel der Pyramiden", Weltbild Verlsg, ca. 1990). Zugleich institutionalisiert sich das Verhältnis von Sklave und Herr in allen Lebensbereichen. Aus der Archäologie ist Sklavere zuvor nur in besonders gefährlichen Bereichen belegt, z.B. im Bergbau, in Steinbrüchen etc., und wohl nur dort war sie offen gewalthaltig. Ansonsten aber scheint Sklaverei ein von allen Beteiligten mehr recht als schlecht ge- und ertragenes Verhältnis gewesen zu sein. Das antike Rom kannte gar eine Art Sozialgesetzbuch, das die Rechte der Sklaven festschrieb. Und gewiß war die Menschenwürde des antiken Sklaven weit mehr geachtet als die des heutigen ALGII-Empfängers. Die Gründe liegen auf der Hand.

Im Griechenland des 4. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung bereits wurde das Verhältnis von Sklave und Herr als grundsätzlich beunruhigend wahrgenommen. Der politisch höchst einflußreiche, begüterte und noch gebildete Denker und Sklavenbesitzer Aristoteteles sinnt damals nach Mitteln und Wegen, jenes Verhältnis aufzuheben, nidestens möxhte er es befristet sehen. Was ihn an diesem Verhältnis irritiert, ist die in ihm liegende Willkur von Schicksal und Zufall. Für Aristoteles eine entsetzliche und absurde Vorstellung, in den Rang eines Sklaven geboren sein zu können, und auf Bildung und persönliche Entfaltung verzichten zu müssen. Auch weniger Privilegierte als Aristoteles empfinden Sklaverei in dem Maße als anstoßend, mit dem die Fähigkeit einer Zivilisation wächst, das Absurde und Entsetzliche abzuwehren und fernzuhalten, also in dem Maße, wie eine Zivilisation lernt, ihren Alltag mit ruhigem operational logischen Denken erfolgreich zu meistern.

Abraham und Moses

Judentum, Chrisentum und Islam haben die selbe religiöse Ursprungsgeschichte, wie sie auch im christlichen Alten Testament niedergelegt ist. Da ist Abraham, dem Gott sich erstmal nach dem Sündenfall der ersten Menschen wieder zeigt und ihm seinen Willen offenbart. Gott erlöt Abraham aus dem Absurden und Entsetzlichen, den eigenen Sohn Isaak opfern zu sollen, und er trägt Abraham und den Seinen für die Zukunft auf, keine Menschen mehr zu opfern. Dieser Befehl hat den Charakter einer den göttlichen Willen bindenden Vereinbarung und wird als ein Bund zwischen Gott und Mensch verstanden - ein parteiischer Bund, einer für das Leben. Ein Bund, um das Absurde und Entsetzliche eines willkürlich zufälligen und schicksalhaften Gottes zu bannen. Gott und Schicksal sind hier als idenisxh zu verstehen. Der menschliche Leib sei vor ihnen geschützt.

Die Macht menschlich veranlaßten Schicksals und Zufalls findet mit der Figur des Moses Schranken. Und auch hier wieder nimmt Gott Partei für das Leben und den menschlichen Leib. Er verbündet sich mit Moses und den Seinen und hilft ihnen, aus der Sklaverei Ägyptens zu entkommen. Gott leistet ein weiteres Mal ein Emanziationsversprechen: keine Sklaverei mehr! Die aus diesem Emanizpationsversprechen hervorgegangenen Zivilisationen werden gemeinhin als abrahamitische bezeichnet. Die Abwehr des Absurden und Entsetzlichen ist ihnen geradezu Programm und legt den Grund für eine Entfaltung operationaler Logik in jenen Zivilisationen, was sie erfolgreich macht. Doch Religionen der Vernunft sind die abrahamitischen keineswegs, sie stützen sich auf die Überlegenheit der klugen Regel, Ritual. Mehr nicht. Aus all dem folgt "Vernunft", wenn es mit Vernunft gemacht wird.

Der Lebensprozeß in solchen Zivilisation kann Reichtum gewinnen und so die Seele stabilisieren. Weiterhin entwickeln sich nun psychische Energien, die das - da Affe mit sehr großem Hirn - chimärische Wesen Mensch lebenskräftig und -willig werden lassen. Denn immer will der Affe das sehr große Hirn, und immer will das sehr große Hirn den Affen irritieren. Daher benötigt jenes Wesen Mensch erhebliche psychische Energien um nicht in den Sog der operational logisch unlösbaren Frage geraten. Das Hirn, das diese Frage an seinen Leib richtet, wird feststellen, von diesem nicht allein ignoriert sondern auch behindert zu werden. Daraus entsteht das Gift des Dualismus. Breitet dieses sich in einer Zivilisation aus, ist das allemal Hinweis auf einen fortgeschrittenen Zerfall ihres Lebensreichtums. Welche Rolle haben da die drei großen Pestwellen in der zweiten Hälfte des 14. europäischen Jahrhunderts gespielt? Kurz nach ihnen bilden sich die ersten und frühen protestantischen Strömungen des Christentums heraus. Deren Thologie beschreibt einen Gott der Willkür und Unvernunft. Deshalb solle der Mensch umso mehr "Vernunft" beweisen, denn die einzige sittliche und religiöse Orientierung könne nun lediglich und allein in einem Gewinn und Erwerb ausgericheten (operational logischen) Handeln gefunden werden. Rituale und Regeln seien leeres Blendwerk, auf religiösen Kult könne verzichtet werden, es reichten der Glaube und die "Werke". Werke meinte das Erwerbswerk! Dies alles beschreibt Max Weber in "Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus", Berlin 1905 und 1920, audführlich und eindrücklich. Doch läßt sich bereits vor der Großen Pest eine deutliche theologische Tendenz zu Dualismus, zu Dualismus, zu "Vernunft" und Arbeitsaskese im Ziesterzienserorden und besonders und besonders bei dessen Spiritus rector, Bernhard von Clairvaux, feststellen, also bereits in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Ganz zu schweigen von den noch früheren Katharern und Albigensern. Interessasnt die Debatten, die Bernhard von Clairvaux und Petrus Venerabilis, Abt von Cluny, in diesem Zusammenhang geführt haben. Der Ordnungsverbund der Cluniazenser scheint ein zivilisiertes Christentum besessen zu haben, eine von der späteren wet abweichende Theologie und Christologie, in welcher Jesus eine Art heldisch draufgängerische Bandenführer gewesen zu sein scheint, ein Lebemann. Zumindest für das frühe Cluny von seiner gründung etwa 912 nach unserer Zeitrechnung bis zum großen Schisma jenes Ordens im frühen 12. Jahrhundert war das so. Näheres dazu bei Jürgen Wollasch, "Cluny. "Licht der Welt"", Münster 1996.

"Ende der Geschichte" mit der Zivilisation

in "The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystem", Suhrkamp, Erstveröffentlichung 1944, beschreibt Karl Polanyi (1886-1964) die Schwierigkeiten der kapitalistischen Staaten jeweils kurz vor den beiden Weltkriegen als die eines Schläfers mit zu kurzer Zudecke, dem entweder Kopf oder Füße frieren. Staatliches Sparen stärkt die Währung und verbilligt den Import, bremst allerdings Export und kostet insgesamt Arbeitsplätze, was am Ende doch wieder zu vermehrten Staatsausgaben führt. Umgekehrt das selbe in Grün: Staatliches ausgeben schwächt die Währung, verteuert Importe, fördert aber Exporte und die Arbeitsplätze dort, was am Ende auch wieder bei vermehrten Staatsaugaben bleibt. Bevor jenes Dilemma jedoch im Zusammenbruch endet, geht kapitalistisches Wirtschafen eine zeitlang gut. Doch die mit der Zeit auflaufenden Profite vermehren das gesamte Kapitalvermögen ständig weiter, mehr Kapitalvermögen aber verlangt nach mehr Profit. Marx sprach da von "Überakkumukation". Kann schließlich nicht mehr genug Profit hergeschafft werden, sinkt die Profitrate bzw. die Rendite, der Anteil des Profits auf das eingesetzte auf das eingesetzte Kapital. Die FAZ vom 29.09.07 beziffert das allein von den weltweiten staatlichen Investititionsgesellschaften gehaltene und nach Profit suchende Kapitalvermögen auf derzeit ca. 2,3 Billionen Dollar; im Jahre 2015 wird dieses Kapitalvermögen auf schätzungsweise 12 (!) Billionen Dollar aufelaufen sein - und nach Profit verlangen! Daneben drückt eine andere Unschicklichkeit die Renditen. Eine Zeitlang kann dem marktlichen Wettbewerbsdruck mit produktionstechnischen Verbesserungen, den so genannten Rationalisierungen, ausgewichen werden. Schlicht, indem Rationalisierung erlaubt, Beschäftigte zu entlassen. Doch muß mit jedem Rationalierungsschritt die so genannte Rationalisirungsreserve schwinden. Können mit jedem im Laufe der Zeit aufeinanderfolgenden Rationalisierungsschritt 10 Prozent der Belegschaft entlassen werden, ergibt sich bei anfänglich 100 Beschäftigte folgendes Bild:

[hier muss eine Tabelle in...wie geht das...? kim, abtipperin]

Zudem werden die einzelnen Rationalisierungsschritte von Mal zu Mal teurer, da immer aufwendigere Verbesserungen erforderlich sind, wie es vom Automaobiltuing her bekannt ist.Der Kapitalist gerät durch diesen Effekt in Bredouille, Marx nannte diese den "Tendentiellen Fall der Profitrate". Von diesem Übel und von dem der Überakkumulation in die Zange genommen, bkeibt den armen Betrieben am Ende nur noch, ihre Belegschaften immer schärfer auszubeuten. Das findet seine Grenzen bekanntlich weder beim Gesetzgeber noch bei den Gewerkschaften, sondern bei Burnout und Krankheit der Beschäftigten. Zuwanderer sollen die ausgepreßten durch frische Zitronen ersetzen.

Die kapitalistische Produktionsweise ist Klettern auf eine Fahnenstange. Ist das obere Ende erreicht, ist die Rendite in die Nähe der Inflationsrate gesunken. Sinkt sie unter diese und tendiert gegen Null, beginnt das Kunststück, sich auf die Fahnenstangenspitze zu stellen und dort zu balancieren versuchen. Absturz wird unvermeidlich. Er kann durch "vernünftige" Agenda-Expeditionen ein wenig verzögert werden. Richtet eine solche Expedition sich nach außen, heißt der Raubzug Krieg. Kapitalismus ist ohne gigantische Zusammenbrüche, ohne Schockstrategien, Krieg und Katastrophen, ohne extreme Gewalt und massenhaften Tod nicht möglich. Die ihren Liebling "Vernunft" immerzu kosend an der Seite laufen habenden herrschenden Sklaven verweigern allerdings die Einsicht in die kapitalistische Kapitalistische Katastrophenmathematik, welche jedes Kind, das die vier Grundrechenarten und die Prozentrechnung beherrscht, leicht nachvollziehen kann. Hier wird die "Vernunft"-Madonna mit einem Mal wie eine Straßenhure behandelt und alles Kosen hört auf. In Art einer ejaculatio praecox - zu deutsch: vorzeitiger Samenerguß - verzichten diese Zuhälter auf alles "Gedöns", werden brutal und schlagen wild auf ihre Madonna und Hure ein. Niemals werden sie eingestehen, ihrem Bewußtseinskult Abermillionen von Menschen zu opfern, grundsätzlich bereit zu sein. War der Massenschlächter Napoleon von narzißtischem Größenwahn befeuert? Stalin von paranoischer Mordlust? Nein. Die Erklärung ist schlichter: Klassiker. Historisch verbürgt, sind sich Napoleon und dessen glühender Bewunderer Goethe einmal persönlich begegnet. Was werden sie sich bei ihrem Abschied zugerufen haben? Kein Gedöns!

Hell leuchtete der Wahn, als der nordamerikanische Historiker Francis Fukuyama vor einigen Jahren das "Ende der Geschichte" ausrief. Nach Kapitalismus komme nichts mehr, Coca Cola forever. Was hat er da beklatscht? Der Seiltänzer aus Nietzsches "Also sprach Zarathustra" kommt in den Sinn. Mitten in der Vorstellung großartigster Kunststücke stürzt dieser jäh und unvermittelt ab. Mit dem Unterschied, daß der Kapitaismus nicht aus Ungeschicklichkeit sondern aus zwingender Logik abstürzen wird. Aus zwingender Operationaler Logik übrigens.

ZURICHTUNG

Hundert Feiglinge und ein Mutiger. Mit wem stimmt etwas nicht? Wie ich lebe, so denke ich, und so werden die modernen Sklavenmenschen, ob herrschende oder beherrschte, den Mutigen als denjenigen identifizieren, mit dem etwas nicht stimmt. Hundert Mutige und ein Feigling? Nun "stimmt etwas nicht" mit dem Feigling. Die Logik der Herde ist eine statistische und ist zugleich ihre "Moral". Herdenlogik führt zu Herdenmoral, zur "Umwertung der Werte", wie Nietzsche sagte. Allemal entsheidet jene Moral, was Gut und Böse ist, und steht mithin über aller Vernunft, selbst - siehe Fukuyama - über aller Operationalen Logik. Daß seine Zeitgenossen in Herden leben, in "Massen", befand auch Gustav LeBon. Sie würden dabei alle Vernunft fahren lassen, schrieb er in "Die Psychologie der Massen", Paris 1905. Insbesondere entsetzt war er über die Unvernuft jener "Massen", die sich aus den Angehörigen durhweg gebildeter gesellschaftliche Eliten zusammensetzen. Er fand dafür keine Erklärung, und so blieb es bei einer Anklage.

Etwa 60 Jahre später widersprach der berühmte David Riesman. Dessen soziologischer Weltbestseller "Die einsame Masse" attestierte Lebons Zeitgenossen im Gegenteil, überaus vernünftig und moralisch gefestigt gewesen zu sein, sie seien "innengeleitete" Menschen gewesen. Seine Zeitgenossen aber betrachtet Riesman als der Vernunft abhold und moralisch flüchtig, die seien "außengeleitet", von den Massenmedien. Den angeblich von festen inneren Wertvorstellungen geleiteten Menschen datierte Riesman in die Zeit von Beginn der Industrialisierung bis hin zum Ersten Weltkrieg etwa. Davor seien die Menschen "traditionsgeleitet" gewesen und eben deshalb unmöglich vernünftig.

Offenbar war Riesman dem großen Vorbild aufgesessen, das der innengeleitete Mensch zu seiner Zeit vor Augen hatte. Dem des vernünftigen Helden. Mit Nietzsche sind allerdings alle drei Riesmanschen Menschentypen Herdenwesen. In unterschiedlichen gesellschaftlichen Umgebungen müssen sie ich unterschiedlich verhalten, mehr nicht. Immer sind die Maximen des Sklavenmenschen die des Opfers und Leidens. Ein "Ressentiment gegen das Leben" mache dem Sklaven- und Herdenmenschen alles von Zufall und Schicksal glücklich Begünstigte anrüchig. So betreibt der von Massenmedien umspülte außengeleitete Mensch Starverehrung und vertreibt die Provokation, die der Star für ihn und sein Ressentiment darstellt, mittels einer dermaßen hündischen Verehrung, daß er den Star in eine jenseitige Sphäre verbannt. Die vernünftigen aber allemal glücklichen Helden des innengeleiteten Menschen waren Stars wie die heutigen, allerdings mußten sie zusätzlich sterben, den Heldentod. Entsprechend die Abfuhr des Ressentiments gegen das Leben beim (christlichen) traditionsgeleiteten Menschen, der seinen Heiligen und Märtyrern beinahe immer ein screckliches Ende zudachte. War das einmal nicht möglich, glich die Verehrung aufs Haar dem heutigen Starkult , insbesondere gegenüber der Mutter des Sohngottes Jesus. Der wohl einzige feste Wert der Sklaven- und Heldenmoral ist jenes "Ressentiment gegen das Leben", weswegen alles glückliche und freie Einzelne in eine jenseitige Sphäre verrückt werden musß. So auch alles glückliche und freie Kollektive. Es wird entweder als Verbrechen oder als Utopie entwertet. Beziehungsweise verehrt, was das selbe ist. Letzteres Spezialität des Mafioso. Und überhauot aller hündischen Wesen. So läßt sich mit Nietzsche jenes Rätsel der Unvernunft der gesellschaftlichen Eliten lösen. Nicht immer haben sich Herrschende und Beherrschte in der selben Sklavenmoral zusammengefunden. Das ist erst mit der Moderne, mit dem Zeitalter von Kapitalismus und Industrie so geworden. Was einen bewußtseinskultigen Müntefering und einen arbeitskultigen Akkordmaurer das selbe Ressentiment gegen das Leben und die selbe Sklaven- und Heldenmoral haben läßt, ist etwas, das erst mit der Industrialisierung in die Welt kam, und von Nietzsche als "Schmieden des Nerven" bezeichnet worden ist: Zurichtung, behaviouristisches Konditionieren. Zurichtung ist intellektuell und moralisch degradierend. So ist Riesmans "traditionsgeleiteten" Menschen wohl die noh geringste Neigung zu Barbarei zuzusprechen. Mit Marxschen Begriffen, stand der traditionsgeleitete Mensch unter "formaler Subsumption der Arbeit unter das Kapital", der moderne Mensch steht unter einer "reellen" solchen Subsumption. Statt "reell" könnte es gut auch "leiblich" heißen. Zurichtung wird am Leibe vorgenommen. Aus dem "Wie ich lebe, so denke ich", wird ein "Wie ich leibe, so denke ich".

Foucault und Querrien

Profunder Kenner der Arbeiten Nietzsches, forschte der 1984 verstorbene französische Soziologe Michel Foucault der Historie jenes Schmiedens des Nerven und da besonders der Frage nach, wie die entsprechenden "Schmieden" entstanden sind, nämlich die gesellschaftlichen Zurichtungsinstitutionen. Im Jahre 1976 veröffentlichte Foucault "Überwachen und strafen. Die Geburt des Gefängnisses". Das moderne Gefängnis mit seiner bis heute hin vorfindlichen Konzeption und Struktur sei in Frankreich in den Jahren zwischen 1810 und 1830 entstanden. Schnell habe sich um es herum eine Landschaft soialpflegerischer Institutionen gebildet, welche auch den freien Bürger zurichten konnten. Historischer Vorläufer des modernen Gefängnisses und der modernen Sozialpflege war das Arbeitshaus. Dessen Klientel bestand vor allem aus Bettlern und Ortsunständigen jeden Alters.

Bereits im 17. Jahrhundert wollte die Obrigkeit Kinder und Jugendliche nicht mit den erwachsenen Insassen des Arbeitshauses in Gemeinschaft haben, um früher "Verderbnis" entgegenzuwirken. Anstatt Arbeitshäuser für jüngere Bettler und Ortsunständige zu errichten, wurde sich dazu entschieden, die Jüngeren zu beschulen. Anne Querrien, eine Mitarbeiterin Michel Foucaults schrieb die Geschichte der französischen Grundschule und veröffentlichte, ebenfalls im Jahre 1976, ihr berühmtes "L'ensaignement. 1. l'école primaire" in Recherches Nr. 23, Juni 1976, Fontenay-sous-Bois. "Enseignement" ist ein Wortspiel aus Unterrichten und Ausbluten. Da Ausbluten und Bluten im Französischen wortgleich sind, läßt sich jenes Wortspiel auch als das deutsche In-Fleisch-und-Blut-übergehen lesen. "École primaire" ist das französische Wort für Grundschule. Die Grundschule ist die zweite große und zentrale institutionelle Säule des Nervenschmiedens, der Zurichtung. Die Landschaft sdzialpflegerischer Institutionen um Gefängnis und Schule herum ist weitgehend die selbe. Eine deutsche Übersezung von "L'Ensaignement" steht immer noch aus. Kein Wunder, ist die deutsche Linke doch eine überwiegend staatsnahe oder gar staatlich verbeamtete. Die Risiken und Nebenwirkungen einer Querrien-Lektüre werden daher furchtbar sein müssen und nicht unter chronischer Diarrhoe enden. Für gute deutsche Linke zumindestens.

Das Schmieden des Nerven, ein behaviouristisches Konditionieren, ist nicht weniger als eine Dressur und richtet den Menschenauf Verwertbarkeit in Lohnarbeit und Fabrik hin zu. Zugleich wird damit die moderne Form des Untertanen produziert, der "Staatsbürger". (Linke Staatsbürger finden das gut!) Foucault beschrieb Zurichtung als aus einer disziplinierenden Ergonomie hervorgekommenm die er als "Mikrophysik des Körpers" bezeichnete, welche sich erstmals mit dem militärischen Drill formiert hatte. Jene Zurichtung ist Voraussetzung der Moderne und ihrer Formen: Kapitalismus, Sozialismus, Volksstaat, gleichgültig ob letzterer als bürgerliche Demokratie oder als Diktatur des Proletariats firmiert. Oder als Mix aus beidem, wie die derzeitige BRD dies verkörpert. Foucault bemerkte, das moderne Gefängnis habe sich in Europa etwa zeitgleich und geradezu blitzartig etabliert. Das mußte es , denn es dient als eine Einrichtung zur Eichung des Basiswerts der gespreizten Lohnskala ermöglicht den verschiedenen nationalen Ökonomien, miteinander in kräftegleichen Wettbewerb zu treten. Das Gefängnis ist so die Praxis, auf welcher die Marxsche Theorie des Werts, das Wertgesetz, ruht. Nicht umgekehrt. Die Praxis ging der Theorie voraus.

Letzter Mensch

Frühestens 100 Jahre nach ihm würden seine Arbeiten von einer breiteren Öffentlichkeit wirklich verstanden werden, schätzte Nietzsche. Wohl erst dann werde der moderne Mensch an Zurichtung bzw. an "Vernunft" so verzweifeln und zuletzt irre werden, daß er sich entschieden gegen sie wenden werde. Den Typus, der den kommenden Kampf führen werde, nannte Nietzsche "Letzter Mensch". Dieser werde eine Zivilisation erzwingen, welche die Hinterlassenschaften des Christentums - Dualismus, Geringschätzung des Leibes, Zurichtung - überwunden habe. "Übermenschen" taufte er diesen dann unzugerichteten und nicht dualistisch orientierten kommenden Typus. Jedoch sei jener Letzte Mensch weiterhin vom noch zu Überwindenden geprägt. Der Übermensch sei nicht die Ausnahme eines Kämpfers sondern der mehrheitliche Mensch des kommenden Zeitalters. Letzter Mensch und Übermensch gehören demnach jeweils einer anderen Zivilisation an. Die Zivilisation des Übermenschen überwinde alle Schöpfergottreligionen. Allein so ließe sich der Bestand des von einem Schöpfergott gegebenen abrahamitischen Emanzipationsversprechen sichern und menschliche Zivilisation sich gegen die aus dem Christentum heraus zur Blüte gekommene Barbarei erhalten.

Mitnichten ist das Christentum die allein unselig machende Religion. Tendenzen zu Dualismus, zu Sklaven- und Herdenmensch und zu deren Moral lassen sich in allen großen Religionen entdecken. Ob und wann diese Tendenzen virulent werden, hängt vom Zufall der historischen Umstände und Gegebenheiten ab. Der Affe mit dem sehr grßen Hirn neigt aus seiner chimärischen Natur heraus zu Wahn. Die Ursachen jener Neigung erforschte Erich Neumann, dessen Arbeiten nicht von ungefähr der Generalschlüssel für die Denkwerkstatt Nietzsches sind. Letzterer sagte über sich selbat, "mit der Nase zu denken", pionierhaft aufspürend. Der fünf Jahre nach Nietzsches Tod und 16 Jahre nach dessen geistigem Versinken geborene Neumann konnte auf Wissen und Erkenntnis zugreifen, die Nietzsche nicht vorgelegen haben. In Kulturgeschichte, Ethnologie, Frühgeschichte, Altertumskunde, Medizin und Psychologie waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Riesenschritte zurückgelegt worden, vor allem aber hatten sich Gesellschaft und Zivilisation dramatisch verändert - übrigens so wie Nietzsche es vorhergesagt hatte. Mit all jenem Neuen im Rücken begründete Erich Neumann eine verblüffend erklärungsmächtige Anthropopsychologie und fand mit dieser das, wonach Nietzsche allezeit gesucht hatte: die Herkunft dessen, was Nietzsche immer als "Instinkt" bezeichnet hatte, jenen des Sklaven- oder Herdenmenschen der Moderne, den "Sklaveninstinkt"! Die politischen Implikationen von Neumanns Arbeit sind derart brisant, daß Verlage ihn gern unter der unpolitisch wirkenden Rubrik "Esoterik" veröffentlicht haben. Zumal Neumanns Anthropopsychologie die Seelenlehre Freuds in die Rubrik "Seelenesoterik des Bürgertums" rückt, was einen großen und wohletablierten Berufsstand um seine Pfründe bringen und deshalb in Aufruhr versetzen müßte. Der Freudsche Familienroman hat, so Neumann, den "Archetypen" zum Autor und ist so schlicht Projektion realen Personals auf den Archetypen. Was für die Therapie der Luxussorgen des Bürgertums allemal genügt.

Erich Neumann (1905-1960)

Erich Neumann hat seine Arbeit nicht in einem Zusammenhang mit der Nietzsches gesehen, den er seinerzeit nur in der fabrizierten Fassung eines antisemitischen Willen-zur-Macht-Denkers kennen konnte. Dem Verfasser ist eine einzige Äußerung Neumanns zu Nietzsche bekannt. Dem wird kurz, unaufgeregt und lapidar charakterlicher Defekt attestiert. Offenbar fand Neumann Nietzsche so uninteressant, daß er dessen Arbeiten schlicht ignoriert haben wird.

In den Jahren von 1932 bis 1934 war Neumann Schüler des Psychologen Carl Gustav Jung, der sich zuvor von Freud abgewandt und eine neue Schuke der Psychologie zu entwickeln unternommen hatte, die Archetypenlehre (Archetyp = Urbild). Jung war deren erster Pionier. Er starb ca. 1964 und war mit zunehmendem Alter patriarchal esoterisch geworden, sein Geschlechterbild bedrückend und bedrückend verschwiemelt. Für seine Lehre fand er keine hinreichende wissenschaftliche Begründung und neigte dazu, Archetypen als transzendente Offenbarung und als eine Art Leitsterne des Lebens, als Handlungs- und Werteorientierung zu nehmen. Genau das aber sind Archetypen nicht. Wie Neumann nachweisen konnte, sind sie Produkt vorrationaler Interpretationen der Welt und folglich in hohem Maße zufällig und bisweilen überaus "falsch". Nichtsdestotrotz begenete Neumann seinem vormaligen Lehrer allezeit mit Respekt, auch nachdem er dessen Pionierleistung auf ein wissenschaftliches Niveau gehoben hatte. Als wissenschaftlicher Pionier der Archetypenlehre hat allein Neumann zu gelten. Aus heutiger Sicht stellen Neumanns Archetypen ein psychisches Organ vor, das auf dem tierischen Instinkt aufsetzt. Beim Tier vermittelt der Instinkt in artlich evolutionär festgeschriebener Weise jeweilige situative Umweltgegebenheiten mit dem endokrinologischen Zustand des Organismus. Diese Vermittlung setzt das Tier in die Lage, jeweils angemessen zu (re)agieren.

Als in von ihm selbst geschaffenen (künstlichen) Kulturwelten lebendes Wesen, bedarf der Mensch eines hingegen hoch flexiblen Werkzeugs für die Vermittlung des Umwelt-Organismus-Zusammenhangs, welches Hunderte von endokrinilogischen Wirksubstanzen koordinieren und adäquat steuern können muß. Der tierische Instinkt hingegen ist starr. In der Sprache der Informatik ist der tierische Instinkt ein in "Maschinensprache" formuliertes sehr einfaches Steuerprogramm, das von "Sensoren" (aus der Umwelt) ankommende Signale (Input) in Outputsignale überträgt, ide Zugriff auf endokrinologische Ressourcen erlauben. Dies Steuerprogramm ist quasi evolutionär fest verdrahtet und hat keine interne "Intelligenz" bzw. komplexe Verarbeitungsleistung. Die menschliche Kulturumwelt ist zu vielfältig, komplex, variabel und mit Blick auf die Zeitrechnung von Evolution zu schnell veränderlich für jenes einfache Werkzeug. Ein leistungsfähigeres wird benötigt, das kulturartifizielle Gegebenheiten strukturiert, interpretiert und mit einer Bedeutung auflädt, welche der physikalischen Größe eines instinktlichen Outputsignals entspricht, um auf endokrinologische Ressourcen bzw. auf Sets solcher Ressourcen zugreifen zu können. Dies verlangt nach einem Organ, welches den tierischen Instinkt erweitert, modifiziert, umgeht oder ersetzt.

Neben jener Schnittstelle hin zum endokrinologischen System ist eine zweite notwendig hin zu demjenigen Organ, das die kulturrtifizierte Umgebung produziert und rezipiert, sprich, zum Bewußtsein hin und zu dessen Wahrnehmungsorganen. Hiermit ist das Lastenheft des Archetypenorgans definiert. Es gleicht einer permanent im Hintergrund mitlaufenden intelligenten Signalverarbeitungs- und Steuersoftware.

Die Tätigkeit jenes Organs hinterläßt in Bewußtsein und Umwelt auffindbare Spuren. Im Bewußtsein als ein "plötzlich aus dem Inneren auftauchendes Bild", dessen Emanenz mit diskreten Empfindungen einhergeht, jedoch diffus bleibt. Ihre Diffusität macht die Spannung aus, die zu bildlichen und musikalischen künstlerischen Produktionen führt, mit denen das emanent Gewordene Artefakt wird. Solche Artefakte lösen wiederum die Emanenz(en) aus, die sie veranlaßt haben. Oder auch nicht. Ein Thema, dessen Nietzsche sich kunstkritisch angenommen hat. Die Manifestationen des Archetypenorgans als Bild, Figur oder Ton (Komposition) sind allerdings nicht Inhalte des Organs, sondern entstammen dem Schnittstellenprotokoll zum Bewußtsein hin. In "Ursprungsgeschichte des Bewußtseins" vollzieht Neumann die Aushandlung dieses Protokolls zwischen Bewußtsein und Archetypenorgan und also zwischen Bewußtsein und "Instinkt" bzw. dem endokrinologischen System nach. Beim Individuum findet sie in der frühen Kindheit statt und sie repräsentiert ein frühkindliches Weltverständnis. Da dies Weltverständnis äußerst rudimentär ist, ist es bei allen Individuen gleich, unabhängig vom gegebenen Kulturstand. Daher ist das Archetypenorgan ein allgemein menschheitlich kollektives. Es ist kein Produkt des Bewußtseins. Es gehört zum Affen, nicht zum Hirn. Daher das Diktum, der Mensch sei nicht Herr im eigenen Hause. Herr ist er lediglich auf dem eigenen Dachboden. Zumindestens potentiell.

Obwohl das Christentum zu den abrahamitischen Religionen zählt, unterläuft es zugleich deren Emanzipationsversprechen. Es ist ein Trojanisches Pferd, in dem Kampftruppen der Anti-Zivilisation auf ihren Einsatz warten. Jener Einsatz begann mit der zurichtenden Moderne. Mit Neumann wird der Nationalsozialismus als bisher markantester Höhepunkt eines Zivilisationszerstörungswerk erkennbar, das aus dem Christentum hervorkommt. Dem zu wehren, hatte Nietzsches große Anstrengung gegolten. Angesichts der weltweiten Aktivitäten der evangelikalen Neokonservativen gewinnen die Arbeiten von Neumann und Nietzsche dramatisch an Aktualität.

Hintergrundrauschen des Tötens

Mit dem Kern seiner Gotteslehre, der Christologie, protegiert das Christentum des dualistisch-manichäistischen Imperativ des "Fleisch soll Geist werden" und damit den Bewußtseinskult der modernen Eliten. Zugleich entspricht die Sohngottopferfigur Christus einem hochenergetisierenden Zentralarchetypen, der die durch Zurichtung moralisch und intellektuell degradierten und also verhordeten Massen der Beherrschten in den Sog eines vorabrahamitischen religiösen Blut- und Menschenopferkultes zieht. Die dort prinzipale Kulthandlung war die alljährlich im Frühling stattfindende Opferung eines jungen Mannes. Die Rede hier vom Kult der "Großen Mutter", mit welchem die Wachskraft der Erde durch "Düngung" mit Opferblut und -fleisch sakral gesichert werden sollte. Auf den ersten Seiten von "Heißer Frieden", Köln 1996, beschreibt Antje Volmer das nepalesische Dassain-Fest, in dem sich jener Kult bis heute in abgeschwächter Form erhalten hat. Statt des Jüngling wird ein Stier geopfert. Ein mehrere Tage währendes ekstatisch-orgiastisches Blutfest folgt. Es gibt näher gelegenes Anschauungsmaterial für jenen Kult, die Schlachtorte um die Stadt Verdun. Bei langsamer Annäherung, z.B. mit dem Rad, fällt eine kleinräumig und immer vielfältiger werdende Agrikultur und Flora auf. Bereits weit außerhalb der Stadt sprießt es aus jedem Fleckchen Boden, aus jedem Gärtchen, aus jeder noch so winzigen Ecke oder Parzelle prachtvoll hervor, festlich, und alles kündet von einem verschwenderischen Einsatz von Düngemittel. So aufzufallen sagt viel in einem Land, das begeistert am nationalen Wettbewerb der "Ville fleuriée" teilnimmt, der "Blumenstadt". Nun war zentrales Symbol des Kults der "Großen Mutter" der Phallus. Bei Verdun steht ein riesenhaft aus der Erde gewachsen zu sein scheinender Bau, ein Mahnmal des Ersten Weltkriegs, der Knochenschrein bzw. das Ossarium. Von einem Hügel in der Stadt Verdun und vom unmittelbar dort neben der Kathedrale befindlichen Bischofsgarten aus, trifft der Blick jenes Ossarium unter einem Winkel, der dessen symmetrisch angeordnete Seitenflügel so weit verkürzt, daß die Silhouette jenes Mahnmals den perfekten Graffito eines Phallus zu erkennen gibt. Und zu einem Fruchtbarkeitskult passend, ist das dichte Buschwerk um den völlig zusammengeschossenen zur Mahnung in diesem Zustand belassen kleinen Nebenort Douaumont bei Verdun ein selbst bei Tage frequentierter Anziehungsort für schnellen Minutensex. Nicht weit davon, in jenem Ossarium, sind die sterblichen Überreste non etwa 140000 unbekannten Soldaten zu einem riesenhaften Haufen geschichtet. Diesen zu beschauen ergießt sich die Fracht einer Armada von Reisebuss in das Ossarium. Angesichts des Vollzugs von 140000 Jünglingsopfern, macht sich in den Besuchern eine eigenartige Gespanntheit breit, und ein Hintergrundrauschen entsteht, das vom vergangenen Exzeß kündet. Vielleicht ist es auch die Ruhe vor dem nächsten Sturm. Jenes Hintergrundrauschen ist das einer orgiastischen Feier des Opferns und Tötens.

MASSE, HERDE, HORDE, GRUPPE

Die Figur des Unbekannten Soldaten ist eine ohne Individualität. Die Anonymität des Kollektivwesens machts sie zu einer Figur des Kults der "Großen Mutter". Das menschheitsfrühe, vorabrahamitische Individuum war im Kollektiv ausgelöst. Dieser frühe traditionsgeleitete (Riesman) Mensch war Herdenwesen durch und durch. Dennoch war er intelektuell und moralisch nicht degradiert. Die Barbara seines modernen Gegenübers war ihm fremd, und in nichts ist jenes frühe Kollektiv mit der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" vergleichbar.

Zivilisation braucht Kult und kann sich diesen nicht in einem Warenhauskatalog aussuchen. Kult hat den Affen und das sehr große Hirn zu versöhnen und zu energetisieren. So muß Kult auf entsprechendes archetypisches Material zurückgreifen, das zudem an die vorherrschende (Re)Produktionsweise anknüpfen können muß. In dem jeweils Gegebenen hat der Mensch sich einzurichten. In der Morderne ist solches Einrichten von Zurichten abgelöst worden, von behaviouristischen Konditionieren.

Die Arbeiten des Nordamerikaners Lawrence Kohlberg beleuchten die Folgen für den moralischen Status des modernen Menschen, dessen Barbarei allenfalls durch brüchige gesellschaftliche Konventionen beschränkt ist. Das Barbarische des menschheitsfrühen Kollektivs war hingegen im Opferkult sakral engehegt und konnte deshalb nicht in den Alltag ausgreifen. Jenes letztere war durch innigliche sozio-ökonomische Kooperation bestimmt. So betitelte Neumann das frühe Kollektiv als "Gruppe" und grenzte es damit gegen die zeitgenössische, durch Fehlen von verantwortliche sozialer und emotionaler Bindung ihrer vereinzelten Angehörigen ausgezeichnete Masse, Herde, am zutreffendsten jedoch Horde ab. In diesem Sinnewird der Alltag der Gruppe als überaus zivilisiert erkennbar. Wohingegen die Horde sozio-ökonomisch flach und punktuell kooperiert, wie es in der Lohnarbeit zwingend vorliegend ist - jegliche Lohnarbeit zwingend vorliegend ist - jegliche Lohnarbeit, kapitalistische wie auch sozialistische, setzt Zurichtung voraus. Bindungen kommen dort zufällig zustande, sind nicht dauerhaft und jederzeit aufhebbar. Belegschaften gleichen Horden, wie sie sich in Katastrophen und Fluchtsituationen bilden.

Horden lassen ihre Toten liegen, Gruppen bestatten sie. Die moderne Masse gleicht einer in örtliche und zeitliche Dauer gezwungenen riesenhaften Horde. Bestenfalls schichtet sie das Gebein zehntausender Opferjünglinge zu einem Haufen auf, und wenn sie deren sterbliche Überreste nicht liegen lassen kann, verbrennt sie diese zu Asche, welche in einem nahegelegen Fluß "entsorgt" wird - so geschehen im nationalsozialistischen Europa. Neumann markierte das moderne Kollektiv entsprechend als rekollektiviert, womit er auf dessen retroartigen Charakter, auf dessen Freaknatur, hinwies. Das moderne Kollektiv ist aus einer abrahamitischen Zivilisation hervorgekommen und vor diese zurückgefallen, in ein zivilisatorisches Nichts. In der Lohnarbeit vereinzelt und von Zurichtung intelektuell und moralisch degradiert, kann der moderne Mensch allenfalls versuchen, Unterhorden zu bilden, z.B. in Parteien und Gewerkschaften oder religiösen Sekten. Eine Gruppe kann sich - zumindest tendentiell - erst wieder bei wilden Streiks, weiterarbeitenden besetzten Betrieben, militärischer Guerilla oder in solchen alternativen Projekten formieren, die auf dauernden und festen Zusammenhalt hin anelegt sind. In diesem Zusammenhang ist auf den unvorstellbar erfolgreichen europaweiten Ordensverbundvon Cluny hinzuweisen. Offenbar war Cluny eine Gegenreaktion zu den im Gefolge der Wikingereinfälle und der dadurch kollabierenden sozio-ökonomischen Struktur sich einstellenden sozialen Verhordungen. Cluny entstand quasi aus dem Nichts. Jenes "Projekt" gelang, wohl weil es sich in keine vorhandene Machtstruktur einbinden wollte und sich stattdessen einer Utopie verpflichtete, die weit und offen war. Dennoch war sie in der Wirklichkeit verankert, indem sie diese erschuf. Das heute verbreitete dauerhafte Refugium von Gruppe ist windig, die Kleinfamilie. Nicht duch sozio-ökonomische Kooperation unterlegt, ist sie ebenfalls ein sozialer Freak, der sich auf das Biologisch-Genetische, auf die brüchige Krücke "Abstammung" stützt. Der Familien- bleibt Hordenmensch. Allein das matialische Gewaltgehabe von Führern kann Horden flüchtige Struktur verleihen.