2008-02:Wieder Prozess geplatzt - diesmal in Gießen

Aus grünes blatt
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Wieder Prozess geplatzt - diesmal in Gießen

Am 4. April sollte die zweite Instanz im Verfahren "Justiz gegen JustizkritikerInnen" in Gießen starten. Angesetzt waren zunächst drei Verhandlungstage. In der ersten Instanz wurde der Angeklagte, ein Politaktivist aus der Region, verurteilt. Gegen das Urteil war Berufung eingelegt worden. Das grüne blatt berichtete in der Ausgabe Winter 2007 von dem politisch motivierten Prozess und insbesondere von der umstrittenen Gutachterin Kreutz.

K.O.B.R.A. 1 Stunde und 40 Minuten - mehr schaffte auch der äußerst autoritär agierende Richter Frank vom Landgericht Gießen nicht, dann war der für mehrere Tage angelegte politische[1] Prozess in Gießen fürs Erste Geschichte. Die Hauptverhandlung wurde "ausgesetzt" (Gerichtsjargon für "geplatzt") und muss nun von Vorne beginnen. Beschlossen wurde, ein neues anthropologisches Gutachten einzuholen. Offenbar war auch der Staatsanwaltschaft klar geworden, dass mit dem bestehenden Gutachten von Dr. Kreutz (schlechte Bilder sind gute Bilder) der Prozess wohl eine schwierige Sache wird. Motive für die Einigkeit von Ankläger und Verteidiger, einen externen Gutachter zu beauftragen, "der auch weit weg von Gießen wohnen kann" (O-Ton Staatsanwalt Vaupel), gibt es aber noch mehr ...

Das Geschehen am Landgericht konnte sich mal wieder sehen lassen: Die Polizei hatte groß aufgefahren. Da wäre für jeden der Erschienenen eine Wanne voll uniformierten Leben drin gewesen. Die Cops bewachten das Landgericht überall. Aber wie jetzt seit einigen Monaten üblich, blieben sie auf Distanz - kein Geschubse, Prügeln, Pöbeln. Haben ja auch gut geloost das vergangene Jahr (OLG-Beschluss, Verfassungsgerichtsurteil, Fiese-Tricks-Veröffentlichung).

Nach einigen Kontrollen gings dann in den Gerichtsaal. Irgendwann kommt Richter Frank mit den beiden Schöffinnen rein und legt einen derben Agro-Auftritt hin. Da der Angeklagte nicht aufstehen will, fordert er ihn mitzählend zweimal auf und wirft dann mit Drohungen wegen Nichtaufstehen wie dem Ausschluss von Verhandlung um sich. Der Angeklagte stand aber nicht auf und irgendwann gab der Richter einfach auf. Dann gings mit ein paar Formalia, der Angeklagte wollte einen Antrag stellen, durfte aber nicht (irgendwie scheint das zu einem ständig sich wiederholenden Vorgang zu werden, dass RichterInnen es brauchen, dass sie definieren, wann was passiert), setzte sich aber durch mit dem Hinweis, später sei dann verspätet. Außerdem hätte der Richter auf dem Tisch vor sich den Antrag schon liegen. "Oh" meinte der Richter, entdeckte das Papier und bat den Angeklagten, den Befangenheitsantrag kurz zusammenzufassen (PDF des kompletten Antrags). Wollte der aber nicht, sondern alles vorlesen. Tat er dann auch, aber beim Verlesen eines im Antrag enthaltenen Zeitungstextes, wo der Richter zitiert wurde mit Bemerkungen, die Justiz würde sich lächerlich machen, wenn sie milde urteilen, wurde er doch wieder unterbrochen und sollte das nicht vorlesen. Machte er doch, der Richter wurde lauter und forderte, dass nicht vorzulesen. Der Angeklagte las weiter und so wurde mehrfach einfach weitergelesen, unterbrochen und erneut gedroht. Schließlich folgte die Androhung, bei weiteren Störungen den Angeklagten auszuschließen. Der beantragte, im Protokoll, zu vermerken, dass der Richter das Verlesen eines Befangenheitsantrags als "Störung" bezeichnet hat. Klappte nicht - aber einige Minuten stellte er genau das als zweiten Befangenheitsantrag des Tages.

Vorher aber fand der Richter doch noch eine andere Lösung und beschloss, dass jeder den Text selbst liest. Aus dem Publikum kam die Bitte, auch Kopien zu halten, was nichts nach sich zog außer der Ankündigung des Richters nach sich, dass alle weiteren Störer rausfliegen. "Was ist dann aber mit der Öffentlichkeit?" Richter: "Die fliegt dann raus".

Nach der Pause beschloss das Gericht, den Befangenheitsantrag zurückzustellen und machte erstmal weiter. Protest von Angeklagtem und Verteidiger, weil die Folgehandlungen nicht unabschiebbar sind (§ 29 StPO), fruchteten wenig: "Ich nehme das zur Kenntnis" antwortete Frank wie üblich. Es folgt dann ein Antrag auf Gerichtsbeschluss (bedeutet, dass das gesamte Gericht beschließen muss, nicht nur der Chef-Richter). Frank zu Schöffinnen "Wir machen das so wie beschlossen", braves Nicken. Lachen im Publikum und die typische Ermahnung.

Dann folgte die Verlesung des Urteils der ersten Instanz. Das dauert, danach kassierte der Richter den zweiten Befangenheitsantrag. Der lautete so:

Befangenheitsantrag II gegen Richter Frank
Der Richter hat den Versuch, einen Befangenheitsantrag vollständig vorzulesen, im laufenden Verfahren als "Störung" bezeichnet und dem Angeklagten bei weiterem Verlesen des vollständigen Textes den Ausschluss von der Verhandlung angedroht. Das ist eine deutliche Herabwürdigung eines seine prozessoralen Rechte wahrnehmenden Angeklagten. Es erzeugte den Verdacht der Befangenheit.
Glaubhaftmachung: Zeugnis des abgelehnten Richters.

Auch der Antrag wurde zurückgestellt und nun Verteidiger und Staatsanwalt befragt, was sie mit ihren Berufungen wollten. Verteidiger Döhmer begründet Berufung mit Kritik am Urteil der ersten Instanz in allen Punkten und strebt Freispruch an. Staatsanwalt Vaupel dann meinte zunächst, dass das Kreutz-Gutachten das zentrale Beweismittel sei und regte dann überraschend von sich aus an, ein neues Gutachten einzuholen - und zwar von einer nicht in der Gießener Region lebenden Person. Deutlicher ist kaum zu formulieren, dass auch er klar wusste, dass unparteiliche Leute nach diesen Gerichtsschlachten kaum noch finden sein würden im Raum Gießen. Der Verteidiger Döhmer stimmte dem Vorschlag zu und erweiterte ihn mit einem eigenen Antrag. Darum wurde diskutiert, aber Richter Frank meinte, das ginge nur, wenn die Befangenheitsanträge wegkommen. Kein schlechter Tricks. Pause, Beratung und dann wird ein Mittelweg gewählt. Der Angeklagte gab eine schriftliche Erklärung ab:

"Ich halte die Anträge auf Befangenheit aufrecht, wenn dem Antrag des Verteidigers auf erneutes Gutachten nicht zugestimmt und mindestens zu diesem Zweck die Hauptverhandlung ausgesetzt wird."

Als es wieder losgeht, gibt es gleich wieder ein paar absurde Wortwechsel und dann mehrere Rauswürfe wegen Lachen. Rüge an diesen Rauswürfen wegen Unverhältnismäßigkeit durch Verteidiger und Angeklagten und wieder Wortgefechte. Dann aber ist es vorbei. Der Beweisantrag auf weiteres Gutachten wird stattgegeben, Hanauer Urteile zu unwissenschaftlichen Gutachten und folgender Schadenersatzpflicht werden beigezogen. Alle gehen nach Hause. Im Gebäude ist zu sehen, dass trotz massivem Polizeischutz etliche Aufkleber das Haus verzieren. Vorne vor der Tür begießt der Gerichtsoberwachtmeister Weber mit viel Wasser die Steinflächen, offenbar um unliebsame Kreideparolen wegzuwaschen. Die Polizei bewacht mit großem Aufgebot den Abgang.

Die Frage, was genau den Staatsanwalt dazu bewog, selbst zu initiieren, dass ein neues Gutachten kommt, wird sicherlich noch einige Zeit im Raume stehen. Erkennbar war, dass er damit auch die anderen Beweismittel wegdiskutieren wollte. Die waren nämlich inzwischen zu einem Handicap geworden, denn eine Fußspur mit Gipsabdruck am Tatort ist ja schön - aber wenn der Beschuldigte im Prozess dann nachweisen kann, dass die Polizei den erfunden hat, ist es eher peinlich. Vielleicht will der Staatsanwalt seine Hilfsbehörde, die Polizei, so davor schützen, wieder einmal als Fälscher und Lügner vorgeführt zu werden. Offen ist auch die Frage, wie der Richter Frank mit seiner abgefahrenen, auch schlicht dümmlichen Autorität diesen Prozess dann neu starten und durchführen will. Allein mit Rauswürfen, Hausverboten & Co. seine Allmachtsphantasien auszudrücken, ist dann doch irgendwann allzu auffällig peinlich.


Wie auch immer

  • Der politische Prozess des Augusts in Gießen ist abgesetzt und wird irgendwann wiederholt
  • Es sind jetzt mehrere Prozesse mit der Strategie kreativer Antirepression in Folge nicht mehr zum Ende gekommen oder wurden, wenn sie endeten, eingestellt bzw. mit Freispruch bedacht. Es wird Zeit, dass mehr offensives Verhalten um sich greift: Polizei und Justiz demaskieren und lahmlegen!
  • Das für nächstes Wochenende geplante Prozesstraining in der Projektwerkstatt fällt aus, da am Folgetag kein Prozess mehr läuft!
  • Der nächste politische Prozess in Gießen ist damit die erste Instanz im Verfahren gegen die Feldbefreier vom Genferstefeld (Aktion Pfingsten 2006), dann folgt die Anklage wegen Beleidigung des Innenministers ("Rechtsbrecher"). Termine: 26. und 29. August ganztags vor dem Amtsgericht Gießen
  • Zur Zeit wird überlegt, am Tag vor dem zweiten Prozesstag ein Prozesstraining zu machen: Rollenspiele für offensive Taktiken und Aktionen im Gerichtssaal. Das wäre dann der Donnerstag, 28.8. Wer Interesse hat, bitte melden, damit Genaueres geplant werden kann und alle das, die Interesse haben.
  • Ein weiteres Training ist für den 17.8. auf dem Antiracamp in Planung, am Abend davor zudem die Veranstaltung "Fiese Tricks von Polizei und Justiz" auch mit Einblicken in Ermittlungsmethoden mit politischen Machtinteressen
  • Wer gern auch mal bei sich eine Veranstaltung oder ein Training durchführen will, kann sich auch melden.


Mehr Infos



  1. Zur Klarstellung: Der Begriff "politischer Prozess" meint ein Gerichtsverfahren, bei der eine Handlung angeklagt wird, die explizit aus politischen Motiven heraus geschah oder wo die Anklage wegen der politischen Ausrichtung entstanden ist. Erkennbar ist das meist an der Zuständigkeit des Staatsschutzes. Nicht ausgesagt werden soll damit, dass es "unpolitische" Prozesse gibt. Strafe dient immer sozialen und politischen Ziele, daher ist Justiz immer eine Form der (autoritären) Gesellschaftsgestaltung, folglich "politisch".