2015-01:Skeptisches Denken: Scharfes Denken gegen Weltvereinfachungen

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Skeptisches Denken: Scharfes Denken gegen Weltvereinfachungen

jb Es gibt keine Pillen gegen verkürzte Analysen. Skeptisches Denken ist eine Form hinterfragender Wahrnehmung aller Informationen und Eindrücke. Es fühlt sich anstrengend an - am Anfang. Wer aber das skeptische Denken zum Alltag macht, wird merken, wie der Kopf mitgeht und zu einem verlässlichen Werkzeug wird, sich von nichts und niemandem mehr einfach einlullen und zu einer neuen „eigenen“ Meinung bringen zu lassen. Können „Verschwörungstheorien“ nützlich sein?

Ja - und zwar sogar zweifach. Zum einen starten viele vereinfachte Welterklärungen mit einer deutlichen Skepsis gegenüber offiziellen Verlautbarungen. Das ist im Prinzip gut, um die Mechanismen von Manipulation, Diskurssteuerung und Erfindungen zu demaskieren und sich aus der Ohnmacht angesichts ständiger Fälschungen aus Herrschaftskreisen und Funktionseliten von Politik, Wirtschaft, Medien, Bildung und Justiz zu emanzipieren. Doch ein Lossagen allein von herrschenden Diskursen ist zu wenig. Es muss ein allgemeines, skeptisch-analytisches Denken hinzukommen - also eines, dass sich auf die eigenen Ideen, Recherchen und Analysen bezieht. Doch leider werden die eigenen Interpretationen und Erklärungen den Anforderungen, die „Verschwörungstheoretiker_innen“ an regierungsamtliche Erklärungsmodelle stellen, selbst nicht gerecht. Sie sind regelmäßig platte Vereinfachungen und lassen bei ihren Autor_innen genau jene Denkschärfe vermissen, mit der die offiziellen Welterklärungen abgelehnt werden. Das Fallbeispiel 9/11 zeigt das gut: Teilweise sauber recherchierten Enthüllungen der Lügen und Verdrehungen offizieller Seite folgen eigene Storys, die genauso vereinfachende Schlussfolgerungen ziehen. Das ideologische Ziel prägt die Analyse - hüben wie drüben: Die einen wollten den Islam oder wahlweise anzugreifende Staaten als Verursacher konstruieren - und dabei vertuschen, welchen Anteil sie selbst an der Ausbildung und Ausstattung der inszenierten „Täter_innen“ hatten. Die anderen wollten die bösen USA brandmarken, um bei passenden Gelegenheiten mit kleinen Nebenstorys wie zufällig Finanzkapital, Israel und andere Feindbilder in die Gesamtkomposition des Bösen einfließen zu lassen. Skeptizismus ist eine wunderbare Sache, hält das ständige Hinterfragen doch den eigenen Kopf in Schwung. Misstrauen nur gegenüber anderen, aber nicht gegenüber eigenen Welterklärungen zu hegen, ist aber kein sonderlicher Fortschritt. So werden nur die einen gerichteten und manipulativen Erklärungen durch andere ersetzt.
Wer die vielen Videos der Weltvereinfachungs„szene“ oder auf den Buchmarkt, schaut, findet unzählige solcher Beispiele: Teilweise gute Kritiken und Analysen herrschender Meinung - verbunden mit eigenen simplen Wahrheiten und missionarisch vorgetragenen Positionen. Als zwei von vielen seien die beiden Bände „Jetzt reicht's!„ von Johannes Holey benannt, die im amadeus-Verlag seines Sohnes Jan Udo (besser bekannt als Jan van Helsing) erschienen sind. Holey reiht dort Kapitel für Kapitel zu allen möglichen Themen aneinander - von gesunder Nahrung und Lebensmittelskandalen über Kriegstreiberei, Bankenwesen, Mikrowellen und Kirchenstrukturen. Mal geißelt er die Massentierhaltung, dann begrüßt er den Klimawandel. Die Hexenverbrennung der Vergangenheit ist für ihn ein schlimmes Verbrechen, die Gottlosigkeit der Jetztzeit behagt ihm aber auch nicht. So sind beide Bücher eine wilde Mischung - und wahrscheinlich jede_r Leser_in wird das Eine oder Andere finden, was gefällt oder neue Informationen bringt. Dazwischen liegen Passagen stark vereinfachter bis völlig schräger Betrachtungen. Gemeinsam haben sie eines: Es fehlen weitgehend belastbare Quellen. Bei vielen Menschen, die zwecks Entlastung des eigenen Kopfes nach einfachen Wahrheiten suchen, ist das aber gerade gewünscht.
Das alles kann aber trotzdem noch aus einem anderen Grund nützlich sein - zum kritischen Hinterfragen und Fortentwickeln des eigenen skeptischen Denkens am schlechten Beispiel. Denn bei kritischem Blick zeigt sich schnell, dass und wie bei „Verschwörungstheorien“, einfachen Welterklärungen und verkürzten Gesellschaftskritiken gearbeitet wird. Da die Vereinfachungsmuster denen der vermeintlich entlarvten Mächtigen und Institutionen dieser Welt stark ähneln, hilft die kritische Auseinandersetzung mit „Verschwörungstheorien“ und einfachen Welterklärungen als Training gegen das, was überall Diskurse hervorruft, gestaltet und steuert: Weglassen, täuschen, vereinfachen. Analytisches Denken folgt keinem festen Schema und hat keine vorhersehbaren Ergebnisse. Es ist das ständige Aktivbleiben im Kopf. Nichts und niemand darf davor sicher sein, kritisch beäugt zu werden.


Gegenmittel: Skeptisches Denken

Eigentlich hätten die ideologischen Propagandamaschinen von Regierungen, Institutionen, Konzernen, „think tanks“ und anderen bessere Gegner_innen verdient als die lange Palette der Welterklärer_innen unterschiedlicher Vereinfachungsgrade von Anti-Finanzkapital bis zu Weltverschwörungen kleiner Kreise oder Außerirdischer. Doch unabhängiges Denken, Hinterfragen, Recherchieren und Gegenöffentlichkeit sind rar. Dabei wäre genau das ein wirksames Gegengift zur Manipulation des Kopfes: Das Nutzen und dabei Trainieren des eigenen kritischen Denkens. Es bedeutet nicht nur, keinen Rückgriff mehr auf vorgekaute Informationen und Wertungen aus offiziellen Ecken zu benötigen, sondern gar keine blinde Übernahme auch wohlklingender Erklärungsversuche. Alles, was mit einfach scheinenden Erklärungen herüberkommt, sollte kritisch beäugt werden. Oder besser: überhaupt alles. Denn dazu ist der Kopf da - und das beste Gegengift zu „Verschwörungstheorien“ und Regierungspropaganda heißt schlicht, immer skeptisch zu sein, zu hinterfragen und viele Quellen zu nutzen. Beginnt gleich mit diesem Text: Auch er ist keine unhinterfragbare Weisheit. Nichts ist eine Bibel - schon gar nicht die Bücher, die sich dreist auch noch so nennen, um besonders wichtig genommen zu werden. Dein Kopf ist der Partner, auf den Du Dich am meisten verlassen kannst in dem Sinne, dass Du immer Einfluss auf die Faktoren hast, die in ihm wirken. Jedoch bedenke, dass jeder Mensch - also auch Du - eine lange soziale Zurichtung abbekommen hat, unter den Diskursen der Zeit steht und sich all das in der Art der Wahrnehmung und Wertung verfestigt hat. Das lässt sich nicht abstellen, aber es gibt Hilfsmittel, um den eigenen Projektionen und erst recht denen anderer auf die Schliche zu kommen. Eine Klippe ist zu überwinden: Skeptischem Hinterfragen steht der Verlust einfacher Orientierung im Leben gegenüber. Die schönen Klarheiten, die bisher den festen Anker des eigenen (politischen) Denkens bildeten, verschwinden. Ebenso fehlen geistige Führungsfiguren, Leitideologien und -kulturen. Fortan ist nichts mehr selbstverständlich, sondern die - sich durch Übung schärfenden - Sinne beobachten, hinterfragen, analysieren. Bei Bedarf werden Menschen selbst recherchieren, unangenehme Fragen stellen. Nichts ist schon vorher klar, nichts mehr einheitlich. Die Gesellschaft besteht nicht weiter aus festen Kategorien, sondern zerfällt in eine unendliche Vielfalt, die zudem dynamisch ist, d.h. sich ständig verändert. Sie ist eine Welt, in der viele Welten Platz haben.


Was immer gilt: Kritische Analyse statt feststehender Wahrheiten

Zum skeptischen Denken gehört die prinzipielle Skepsis gegenüber eigenen, gerade für sinnvoll gehaltenen Analysen und Überzeugungen. Es gibt keine Dogmen und keine Wahrheiten. Jede Meinung, die sich selbst für ewig richtig hält, ist ein Dogma. Denn wer heute meint, dass eine Überzeugung auch morgen noch Bestandskraft haben soll und wird, definiert sich selbst außerhalb der Fortentwicklung von Wissen und Möglichkeiten. Das machen aber nicht einmal Physiker_innen auf der Suche nach dem Ursprung der Materie - warum also sollte es bei Erklärungsmodellen für soziale Abläufe gelten, wo doch dort deutlich mehr verändernde Einflüsse und grundsätzliche Möglichkeitserweiterungen hineinspielen? Die kritisch-skeptische Analyse sei daher geübt und zum Alltag des Denkens gemacht. Sie stellt mindestens die folgenden Fragen an jede Information:

  • Werden Quellen genannt? Wenn ja: Welche sind das?
  • Sind Analogien, wenn sie vorgenommen werden, passend? Oder behaupten sie Scheinähnlichkeiten, die sich tatsächlich nicht vergleichen lassen?
  • Welche Interessen bzw. Motive stehen hinter Entstehen oder Verbreitung der Information?
  • Enthalten die Informationen Projektionen, d.h. werden bestimmte Vorurteile oder vorher feststehende Bilder in ein Geschehen hineininterpretiert?
  • Wo sind Zirkelschlüsse da, d.h. wo wird A mit B begründet und dann B mit A?
  • Werden aus Einzelinformationen Verallgemeinerungen gemacht?
  • Werden komplexe Sachverhalte auf einzelne Informationen vereinfacht bzw. aus vielen denkbaren Ursachen nur eine genannt?
  • Welche Sprache (z.B. zu einem bestimmten Denken drängende Wörter wie „sollst, wirst, ist, wahr, objektiv, bewiesen ...“) und welche kulturellen Codes enthält die Information?
  • Ist ein missionarischer Geist erkennbar?

Wer sich üben will, kann zu anspruchsvollerer Weltvereinfachungslektüre greifen. Das Buch „Der Wissenschaftswahn“ von Rupert Sheldrake ist eine Herausforderung für kritisches Denken - und zwar gleich im doppelten Sinn. Zum einen zerlegt es in teilweise brillanter Art überkommene Vorstellungen mechanistischer Weltbilder. Deren Erklärungsweite reiche nicht aus, um die Phänomene der komplexen und dynamischen Welt zu erklären. Sheldrake bietet sog. „morphische Felder“ als Ergänzungstheorie an, ohne sie genauer zu beschreiben. Das allein wäre ihm nicht vorzuwerfen, denn Wissenschaft setzt auf dem Weg zu neuer Erkenntnis immer wieder gedachte Annahmen in die Welt, die dann zu überprüfen sind. Etwas anderes macht das Buch problematisch - und hier sitzt die zweite Herausforderung an das Denken. Denn Sheldrake entwirft sich den wissenschaftlichen Materialismus einfach selbst, den er braucht, um in den dabei selbstgeschaffenen Erklärungslücken gedanklichen Platz für seine morphischen Felder zu schaffen. Sein Bild von Materie und dem Stand der Forschung ist deutlich vereinfacht. Auf dieser Vereinfachung baut dann die Idee auf, dass es etwas geben müsse, was nicht materiell ist. Wer skeptisch über das Buch und alle anderen „Wahrheiten“ nachdenkt, wird schlussfolgern: Möglich ist Sheldrakes Interpretation - ebenso aber auch, dass er schlicht den Anschluss an die moderne Wissenschaft verpasst hat, die Materie schon länger weit dynamischer begreift als noch im mechanistischen Weltbild.


Warnung vor der Masse

Es entlastet nicht nur den Kopf, die komplexe Welt zu vereinfachen und schematische Erklärungsmuster als Matrix auf das Geschehen zu drücken. Wenn solches Denken in einer Runde von Menschen kollektiv erfolgt und sich - durch Wiederholung und gegenseitige Bestätigung - noch verstärkt, steigert sich die Wirkung und schafft zusätzlich ein Gefühl der Geborgenheit. Da die Menschen um eine_n herum ähnlich „ticken“, muss es ja richtig sein. Da lohnt sich, an einen Klassiker zu erinnern. Gustave Le Bon verfasste schon 1895 sein Hauptwerk „Psychologie der Massen“. Dort beschrieb er, wie große Menschenmengen wirken, wie sie das Gewissen und skeptische Denken der Einzelnen überdecken. Massen können barbarisches Verhalten gebären, weil vernünftiges Denken und reflektiertes Handeln verlorengehen. Die Nationalsozialisten studierten sein Werk aufmerksam - und auch auf heutige Steuerungen großer Menschenmengen, sei es im Sport, durch Politik oder auch in politischen Bewegungen, ist das Buch vielfach noch treffsicher anwendbar. Es ist ein blanker Zynismus, dass es nun bei Kopp erscheint - einem Verlag, dessen Programm viele manipulative Schriften enthält und der Politik bzw. militärischen Aktivitäten des Dritten Reiches mit wenig Distanz begegnet. Wer neuere Texte zu Masseneffekten sucht, kann im Buch „Freie Menschen in freien Vereinbarungen“ (auch unter www.herrschaftsfrei.de.vu) das Kapitel über verschiedene Formen von Menschenmengen lesen oder den (im Gegensatz zu seinem gleichnamigen Buch brillianten!) Vortrag von Michael Schmidt-Salomon anhören (http://www.youtube.com/watch? v=AsSo_z_XCcc).
Der massenpsychologische Effekt tritt bereits in kleinen Gruppen auf, heute stärker als früher. Feste Partei- und Verbandsgrenzen, Cliquen und neuformierte Familieninseln prägen eine Gesellschaft voll erkennbarem Bedürfnis an Abgrenzung vom Äußeren zwecks Bildung eigener Identität. Diese ist regelmäßig nichts anderes als eine starke Vereinfachung vermeintlich gemeinsamer Ansichten, die aber nicht durch Analyse, sondern durch Abtrennung vom Anderen erzeugt werden. Vereinfachung bedeutet auch hier Verblödung. Einheitlich-identitäre Menschenmengen machen dumm.