2015-01:Vom Absurden ins Alltägliche: Grauzonen und Andockpunkte

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Vom Absurden ins Alltägliche: Grauzonen und Andockpunkte

jb „Derzeit ist unsere Geburtenrate nicht nur zu niedrig, sondern sie ist auch schieflastig. Sie wird nämlich getragen von den meist gering bis gar nicht ausgebildeten Einwandererfrauen, die erheblich mehr zum Kinderreichtum des Landes beitragen als die beruflich qualifizierte, geschweige denn hochqualifizierte »biodeutsche« Frau.“ Nein, das ist nicht Pirincci - und auch nicht Sarrazin. Es steht auf S. 29 des neuen Buches „Die andere Gesellschaft“ von Heinz Buschkofsky. Der ist wie Sarrazin in der SPD und war bis Januar 2015 Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln. Ihn sorgten nicht nur befruchtungsfaule Deutsche, sondern auch „Laissez-faire ist kein gutes System“ (S. 299)

Einfache Welterklärungen oder gar „Verschwörungstheorien“ sind im politischen Meinungskampf nichts Besonderes. Sie bieten nur Zuspitzungen der auch sonst üblichen Art, politische Kontexte zu benennen, gesellschaftliches Geschehen darzustellen und Erzählungen zu verbreiten. Dieses Alltägliche, welches in den „Verschwörungstheorien“ zur vollen Blüte kommt, ist das eigentlich Erschreckende. Überall werden die Köpfe der Menschen weich gemacht durch künstlich erzeugte oder verstärkte Ängste, Erinnerungen und Hoffnungen, mit deren Hilfe sich dann Interessen und Politiken durchsetzen lassen. Schaufensterreden in der Politik, Berichte in den Medien und Positionen von Parteien, Lobbyist_innen, Konzernen und NGOs wimmeln nur so von Populismen und anderen Formen der Vereinfachung. Auch im Bereich der Unterhaltungskunst ist Vereinfachung und Pauschalisierung eher der Alltag denn die Ausnahme. Meist wird dort einem benannten Problem nur eine Ursache zugeordnet, um dann eine scheinbar passende Lösung anzubieten. Abläufe werden vereinfacht und standardisiert, Klischees und Denkschubladen füllen Texte und Reden. Spielfilme und Bücher mit ihren Erzählungen sind ein guter Spiegel dieser Tendenz zur Vereinfachung und Bildung grober Raster. Europa und USA, Männer und Frauen, Arbeiterklasse und Kapitalisten (meist noch so antiquiert, dass die rein männliche Bezeichnung ausreicht), Bayern München und Borussia Dortmund, raffendes und schaffendes Kapital (oder verschleiernd: Spekulation und Investition bzw. Finanzkapital und Mittelstand), Deutschland und China, Deutsche und Ausländer_innen, wir und die - ohne Blick auf Vielfalt und Binnendifferenzierung werden Schubladen eröffnet und mit ihrer Hilfe die Welt interpretiert.
Auf dem Humus solcher Vereinfachung gesellschaftlicher Komplexität können monokausale Welterklärungen und ihre Extremform, die „Verschwörungstheorien“, wunderbar gedeihen. Selbst wenn nicht alle Menschen dem Gesamtbild folgen, dass z.B. Finanzkapital, USA, Monsanto oder die Bilderberger alleine schuld sein sollen, setzen sich Einzelelemente doch fest. Dabei passen schon die Schubladen selbst nicht. Sie sind keine einheitlichen Gebilde, sondern unterliegen mehr oder weniger ausgeprägten internen Konkurrenzkämpfen, Veränderungen und Abhängigkeiten in den Geflechten der Macht. Sie sind Teil eines komplexen Ganzen, in dem sich viele Zentren und Peripherien gegenseitig beeinflussen, unterstützen oder bekämpfen - mit fließenden Übergängen. Dabei sind alle oder fast alle von dominanten Wirkungsmechanismen erfasst und getrieben. Dazu gehört der Zwang zu Profit und Verwertung im Kapitalismus, der Sicherung von Macht und Privilegien innerhalb von Hierarchien sowie der Steuerung von Diskursen als wichtigstes Einflussmittel in Medien- und Wissensgesellschaften. Solche Verhältnisse und Beziehungen in ihrer Komplexität zu analysieren, erscheint den meisten Menschen mit ihrer Abneigung, intensiv zu leben und zu denken, zu anstrengend. Nirgends wird das deutlicher als bei den modernsten Teilen politischer Bewegung. Eine Protestagentur wie Campact ist selbst vom Zwang zum ständigen Profit und zur Akkumulation von Produktionsmitteln (Adressverteiler, Pressekontakte usw.). Alles muss wachsen: Hauptamtliche, Spenden, Demoteilnehmer_innenzahlen, Verteiler). Das geht offenbar, wenn der Protestkonzern dem Zeitgeist folgt und primitive Analysen, Feindbilder und Parolen liefert. Denn Campact will die Bildungsoberschichten erreichen, wo die strategisch geschickt eingefädelten Spendenaufrufe die beste Wirkung zeigen. Campact bezirzt diese Klientel selbst mit dem Spruch, diese könnten mit Geld und Klicks „schon mit ein paar Minuten Zeit in der Woche“ (Internetseiten von Campact, Stand: 1.7.2010) Politik zu machen. In „ein paar Minuten“ aber passen nur simple Feindbilder und Erklärungsmodelle des jeweiligen politischen Geschehens hinein.
Wer Aufmerksamkeit will, neigt zu Vereinfachung. Wiederholungen fördern die einmal begonnene, einseitige Wahrnehmung. Werden dann über lange Zeit Vereinfachungen und Schubladendenken in die öffentlichen Debatten gestreut, gelingt es, nicht nur die vereinfachten Erklärungen und Schubladen unhinterfragt als gegeben in die Köpfe zu bringen, sondern den ständig benannten, aber künstlichen Kategorien auch noch Eigenschaften zuzuschreiben. So funktionierte der früher allgemein als wahr akzeptierte und auch heute immer noch nicht überwundene Rassismus. Zunächst wurden die Rassen gebildet. Dabei war die Einteilung nach Hautfarbe bei näherer Betrachtung völlig willkürlich. Es hätten auch - mit genauso viel bzw. eher genauso wenig Berechtigung - Nasenform, Haarfarbe oder Pimmellänge zur Einteilung herangezogen werden können. Dann ordnete mensch diesen Kategorien bestimmte Eigenschaften zu. So sollten Weiße intelligenter, Schwarze sportlicher usw. sein. Ganz ähnlich funktioniert der Antisemitismus. Zuerst wird eine einheitliche Gruppe („die“ Juden) gebildet. Dann werden dieser einheitliche Wesensmerkmale angedichtet wie Geldgier oder Unaufrichtigkeit. Falsch war immer schon die Einteilung. Denn alle Kategorien, in die Menschen eingeteilt werden, sind höchstens Hilfsmittel, die einen Einzelaspekt beschreiben. Wer z.B. sagt, dass soundsoviele Menschen hungern oder X-Tausend Anhänger_innen eines bestimmten Popstars sind, sagt ansonsten über Ähnlichkeiten oder Unterschiede zwischen diesen Menschen genau nichts aus. Jede über den einen Aspekt (der oft schon unscharf ist) hinausgehende Vereinheitlichung hätte bei näherem Hinsehen keinerlei Entsprechung in der Realität. Vielmehr herrscht innerhalb aller Menschengruppen eine hohe Vielfalt unterschiedlicher Individuen. Doch leider sind pauschalisierende Einteilungen weit verbreitet und immer gefährlich, dienen sie doch als Grundlage für Stigmatisierungen und Populismen. Zwei Beispiele, die in politischer Bewegung verbreitet sind, seien benannt: Die Zinskritik und der Protest gegen das TTIP.


Statt Kapitalismusanalyse: Zins und Geldsystem als Schuldige

Es ist ein bisschen absurd, in Zeiten des Null- bis Minuszinses Bücher zu lesen, die für eine Welt ohne Zins werben und umfangreich erläutern, was dann alles besser würde. Denn die Realität hat in solchen Zeiten die Theorie schon widerlegt. Das fällt bei der Zinstheorie ohnehin nicht schwer. Die meisten der Bücher, die Zins, Zinseszins oder das gesamte Geldsystem kritisieren, setzen sich damit aber kaum auseinander. Bei den meisten ist der niedrige bis ganz weggefallene Zins auch noch gar nicht angekommen - es wird weiter so getan, als stecke in jedem Preis ein riesiger Anteil nur für die Zinstilgung. Wertverwertung, Profitzwang, Eigentum und weitere tragende Säulen des Kapitalismus sind hingegen für die Zins- und auch fast alle Geldsystemkritiker_innen kein Problem. Ist der Zins erst weg oder das Geld z.B. an Spareinlagen oder Gold gekoppelt, wird all das zum Guten. So vermittelt es unter anderem Leo Schmitz in seinem Buch „Marktwirtschaft ohne Zins“ (2012, R.G. Fischer in Frankfurt, 307 S., 19,80 €). Der Wert dieses Buches liegt darin, die verkürzte Kritik sehr präzise und für verschiedene gesellschaftliche Felder darzustellen. So ist es als Informationsquelle über die Theorie einer besseren, weil zinslosen Gesellschaft nützlich.
Einen anderen Mechanismus wählen Thomas Mayer und Roman Huber in „Vollgeld“ (Tectum in Marburg, 322 S., 18,95 €). Sie greifen die Möglichkeit der Banken an, selbst Geld zu schöpfen - also wie das Drucken von Geldscheinen, nur virtuell (Giralgeld). Dadurch würden Spekulationen und Verschuldung begünstigt. Die beiden Autoren plädieren für ein Vollgeld, welches durch die Zentralbank geschaffen und für konkrete Leistungen geliehen wird. Der Vorschlag wird genau beschrieben einschließlich all der Punkte, die dadurch nicht gelöst werden. Insofern ist das Buch ehrlich und nützlich als Beschreibung eines konkreten Vorschlages, der Vorteile gegenüber der jetzigen Phase des Kapitalismus bieten könnte, aber nicht besonders weit geht.
Genau anders Rauno Schneidewind in „Von der Demokratie zur Plutokratie“ (2014, Tectum in Marburg, 218 S., 19,95 €): Hier werden einzelne Merkmale des Geldsystems, verrührt mit empörten Ausführungen über Geheimdienste und gesteuerte Medien zum Ausgangspunkt alles Bösen. Ab Seite 93, für vier Seiten lang, werden dann einige Finanzkartelle auch als „Herren der Welt“ beschrieben. Ein analytischer Blickwinkel auf gesellschaftliche Verhältnisse fehlt - so funktioniert Vereinfachung. Gefährlich ist sie wie alle Verkürzungen kapitalistischer Analyse auf Finanzgeschäfte. Denn aus ihnen erwächst der Hass auf einzelne Täter_innen - im noch eher harmlosen Fall „die Banker“, traditionell aber auf das in selbige projizierte Weltjudentum. Der Antisemitismus fußt zu großen Teilen auf dieser Zuschreibung und hat in der Geschichte mehrfach zu Vernichtungsphantasien und -praxis geführt - mit dem deutschen Holocaust als traurigen Höhepunkt.


Das TTIP: Böse Amis gegen „good old europe“?

Das Thema ist in aller Munde, seit €pa mit den USA verhandelt: Freihandelsabkommen. Das ist eigentlich nichts Neues - Deutschland bzw. die EU haben schon etliche geschlossen. Zum Skandal wurde es erst, als die USA ins Spiel kamen. Antiamerikanismus feiert hier fröhlichen Urstand. Fraglos ist der Widerstand gegen solche Abkommen gut begründbar - nur wäre er bei Verträgen mit anderen Ländern ebenso passend gewesen. Mit dem TTIP wiederholt sich, was bei anderen Themen auch galt: Kriege regen vor allem auf, wenn die USA bombt. Feindbild beim Gentechnikprotest waren nicht die deutschen Player BASF, Bayer und KWS, sondern die US-Firma Monsanto. Wenn Begriffe aus fremden Sprachen ins Deutsche eindringen, verdrängt der Wahn bösen US-Kulturimperialismusses die simple Einsicht, dass es eigene Erfindungen (z.B. „Handy“) oder eine europäische Sprache, nämlich das Englische ist, welche hier expandiert (und übrigens vor vielen Jahrzehnten mal das jetzige Gebiet der USA selbst gewaltsam überzog).
Die Campact-Fahne auf der Wir-haben-es-satt-Demo im Januar 2015 (siehe Foto) zeigte diese Einseitigkeit an. Das tiefe Niveau politische Analyse hält bei aufmerksamkeits- und spendengeilen Organisationen weiter an. Doch andernorts gibt es zum Glück auch differenziertere Blicke. Inzwischen mehren sich Text, die solche Freihandelsabkommen als das darstellen, was sie sind: Kampfmittel der Wirtschaft. Die Konzerne werden gestärkt, die Menschen geschwächt. Das Buch „Die Freihandelsfalle“ von Harald Klimenta, Andreas Fischer und anderen erklärt das richtig. Die Ziele des TTIP genannten Abkommens werden analysiert, ohne in das sonst oft zu hörende Gut-Böse-Schema zwischen EU und USA zu verfallen. Die Lektüre hilft, Abkommen dieser Art als das zu verstehen, was sie schon immer waren: Eine Stärkung der Industrie gegenüber Verbraucherrechten.


Offen nach rechts: Faschismus, Rassismus & Co. basieren auch immer auf Vereinfachungen

Wer mit Vereinfachungen arbeitet, schafft Klebepunkte für rechte Ideologien. Nicht weil Vereinfachungen immer rechts sind, aber weil rechte Ideologien immer auf Vereinfachungen beruhen: Rassen und ihre Eigenschaften, Geschlechter und ihre Rollen, Deutsche und Nicht-Deutsche, Israel gegen Palästina, USA gegen die Welt, Regierungen gegen das Volk - alles ist sauber eingeteilt. Das ähnelt von der Denkstruktur her den Vereinfachungen in politischen Bewegungen, vieles folgt sogar derselben Logik, nur zugespitzter. So überrascht es wenig, wenn die Übergänge fließender werden, wenn NPDler mit gegen Gentechnik demonstrieren, Neurechte und Linke Seite an Seite gegen den Euro wettern, AfD wählen ...