2016-02:Rezension Graphic Novels: Unterschied zwischen den Versionen

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'''reka''' Graphic Novels sind längere, meist einbändige Comics, die epische, teilweise komplexe Geschichten erzählen. Mit dem Begriff verbindet sich oft die Vorstellung eines ernsthaften Comics, der wie ein literarisches Werk eine Geschichte aufbaut und sich damit von Comics für Kinder und Jugendliche unterscheidet, wobei Kritiker*innen vermuten, dass hinter dem Begriff rein kommerzielle Interessen stecken und mensch den Leser*innen mit dem Begriff suggeriere, dass eine Graphic Novel automatisch anspruchsvoller als ein herkömmlicher Comic sei.  
 
'''reka''' Graphic Novels sind längere, meist einbändige Comics, die epische, teilweise komplexe Geschichten erzählen. Mit dem Begriff verbindet sich oft die Vorstellung eines ernsthaften Comics, der wie ein literarisches Werk eine Geschichte aufbaut und sich damit von Comics für Kinder und Jugendliche unterscheidet, wobei Kritiker*innen vermuten, dass hinter dem Begriff rein kommerzielle Interessen stecken und mensch den Leser*innen mit dem Begriff suggeriere, dass eine Graphic Novel automatisch anspruchsvoller als ein herkömmlicher Comic sei.  
 
Die Wurzeln der modernen Graphic Novels sind in den 20er Jahren des 20._Jahrhunderts zu finden, als das Genre der woodcut novel entstand.
 
Die Wurzeln der modernen Graphic Novels sind in den 20er Jahren des 20._Jahrhunderts zu finden, als das Genre der woodcut novel entstand.
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Ausbeutung von Arbeiter*innen in der DDR'''
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In der Graphic Novel „Madgermanes“ gelingt es der Autorin Birgit Weyhe die durch Gespräche mit Zeitzeug*innen recherchierten Fakten außergewöhnlich gut in berührender und informativer Weise auf die drei fiktiven Charaktere anzuwenden und einen angenehmen Erzähl- und somit Lesefluss zu erzeugen. Der Begriff „Madgermanes“ ist eine Konstruktion aus „Made in Germany“, welcher als Schimpfwort entstand und jetzt aber als Selbstbezeichnung der afrikanischen Vertragsarbeiter*innen der ehemaligen DDR genutzt wird. Das Buch handelt von drei fiktiven Schicksalen von Mosambikaner*innen, welche zu DDR-Zeiten als Vertragsarbeiter*innen mit dem Versprechen auf Bildung aus dem bürgerkriegsgeschüttelten Mosambik in die DDR geholten wurden, aber statt dessen hier als einfache Hilfsarbeiter*innen ausgenutzt wurden, die in separierten Wohnheimen leben mussten, kaum Kontakt zur Bevölkerung bekamen, mit Rassismus kämpfen mussten und deren Lohn nur zu 40 Prozent ausgezahlt wurde. Die restlichen 60 Prozent wurden in Form von Devisen an die mosambikanische Regierung gezahlt mit dem Versprechen an die Arbeiter*innen sie bei der Rückreise zu bekommen. Das ist aber nie geschehen und die Betroffenen kämpfen noch heute für ihre Löhne.
 
In der Graphic Novel „Madgermanes“ gelingt es der Autorin Birgit Weyhe die durch Gespräche mit Zeitzeug*innen recherchierten Fakten außergewöhnlich gut in berührender und informativer Weise auf die drei fiktiven Charaktere anzuwenden und einen angenehmen Erzähl- und somit Lesefluss zu erzeugen. Der Begriff „Madgermanes“ ist eine Konstruktion aus „Made in Germany“, welcher als Schimpfwort entstand und jetzt aber als Selbstbezeichnung der afrikanischen Vertragsarbeiter*innen der ehemaligen DDR genutzt wird. Das Buch handelt von drei fiktiven Schicksalen von Mosambikaner*innen, welche zu DDR-Zeiten als Vertragsarbeiter*innen mit dem Versprechen auf Bildung aus dem bürgerkriegsgeschüttelten Mosambik in die DDR geholten wurden, aber statt dessen hier als einfache Hilfsarbeiter*innen ausgenutzt wurden, die in separierten Wohnheimen leben mussten, kaum Kontakt zur Bevölkerung bekamen, mit Rassismus kämpfen mussten und deren Lohn nur zu 40 Prozent ausgezahlt wurde. Die restlichen 60 Prozent wurden in Form von Devisen an die mosambikanische Regierung gezahlt mit dem Versprechen an die Arbeiter*innen sie bei der Rückreise zu bekommen. Das ist aber nie geschehen und die Betroffenen kämpfen noch heute für ihre Löhne.
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'''Alltagsleben nach Tschernobyl und Fukushima'''
 
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Da dieses Jahr auch das Jubiläum der beiden bisher größten Atomkatastrophen, Tschernobyl 30 Jahre und Fukushima 5 Jahre, ist, hat der Egmont-Verlag eine Graphic Novel mit dem Thema und Titel „Tschernobyl“ sowie den Manga „Daisy aus Fukushima“ auf den Markt gebracht. Während erstere für jung wie alt geeignet scheint, jungen und alten die Gefahr welche von Atomkraft ausgeht, nahe zu bringen, scheint letzteres vom Stil her eher für jüngere Menschen geeignet zu sein, wobei das natürlich auch Geschmackssache ist.
 
Da dieses Jahr auch das Jubiläum der beiden bisher größten Atomkatastrophen, Tschernobyl 30 Jahre und Fukushima 5 Jahre, ist, hat der Egmont-Verlag eine Graphic Novel mit dem Thema und Titel „Tschernobyl“ sowie den Manga „Daisy aus Fukushima“ auf den Markt gebracht. Während erstere für jung wie alt geeignet scheint, jungen und alten die Gefahr welche von Atomkraft ausgeht, nahe zu bringen, scheint letzteres vom Stil her eher für jüngere Menschen geeignet zu sein, wobei das natürlich auch Geschmackssache ist.
  

Version vom 12:31, 8. Sep 2016

Graphic Novels von „Madgermanes“ bis zum Atomgau

reka Graphic Novels sind längere, meist einbändige Comics, die epische, teilweise komplexe Geschichten erzählen. Mit dem Begriff verbindet sich oft die Vorstellung eines ernsthaften Comics, der wie ein literarisches Werk eine Geschichte aufbaut und sich damit von Comics für Kinder und Jugendliche unterscheidet, wobei Kritiker*innen vermuten, dass hinter dem Begriff rein kommerzielle Interessen stecken und mensch den Leser*innen mit dem Begriff suggeriere, dass eine Graphic Novel automatisch anspruchsvoller als ein herkömmlicher Comic sei. Die Wurzeln der modernen Graphic Novels sind in den 20er Jahren des 20._Jahrhunderts zu finden, als das Genre der woodcut novel entstand.

Ausbeutung von Arbeiter*innen in der DDR

In der Graphic Novel „Madgermanes“ gelingt es der Autorin Birgit Weyhe die durch Gespräche mit Zeitzeug*innen recherchierten Fakten außergewöhnlich gut in berührender und informativer Weise auf die drei fiktiven Charaktere anzuwenden und einen angenehmen Erzähl- und somit Lesefluss zu erzeugen. Der Begriff „Madgermanes“ ist eine Konstruktion aus „Made in Germany“, welcher als Schimpfwort entstand und jetzt aber als Selbstbezeichnung der afrikanischen Vertragsarbeiter*innen der ehemaligen DDR genutzt wird. Das Buch handelt von drei fiktiven Schicksalen von Mosambikaner*innen, welche zu DDR-Zeiten als Vertragsarbeiter*innen mit dem Versprechen auf Bildung aus dem bürgerkriegsgeschüttelten Mosambik in die DDR geholten wurden, aber statt dessen hier als einfache Hilfsarbeiter*innen ausgenutzt wurden, die in separierten Wohnheimen leben mussten, kaum Kontakt zur Bevölkerung bekamen, mit Rassismus kämpfen mussten und deren Lohn nur zu 40 Prozent ausgezahlt wurde. Die restlichen 60 Prozent wurden in Form von Devisen an die mosambikanische Regierung gezahlt mit dem Versprechen an die Arbeiter*innen sie bei der Rückreise zu bekommen. Das ist aber nie geschehen und die Betroffenen kämpfen noch heute für ihre Löhne.

Zu den historischen Hintergründen: Seit 1964 kämpfte die marxistische FRELIMO-Bewegung für die Befreiung Mosambiks von der portugisischen Kolonialmacht, aber erst die Nelkenrevolution in Portugal führte dann 1975 zur Unabhängigkeit. So wurde der Bürgerkrieg beendet, die FRELIMO-Partei kam an die Macht und diese begann ein sozialistisch-brüderliches Verhältnis mit den Ostblockstaaten.

Birgit Weyhe gelingt die graphische Umsetzung der Stories, gemischt mit der Darstellung der historischen und persönlichen Ereignisse, sehr gut. Obwohl für eine Graphic Novel die Darstellung der verschiedenen Kulturen und historischen Umstände recht ausführlich gelingt, kommt manches auch etwas klischeehaft daher, was natürlich zu kritisieren ist. Das Interessante an dem Buch ist, dass ein bisher wenig beachteter Teil der DDR-Geschichte etwas beleuchtet wird und neben den historischen Aspekten auch der gesellschaftliche Rassismus in der DDR und BRD gezeigt wird, gegen den die Protagonist*innen zu kämpfen haben. Beispielsweise durften die afrikanischen Vertragsarbeiter*innen keine Kinder bekommen, sonst wurden sie sofort zurückgeschickt, sie wurden in öffentlichen Räumen wie Kneipen etc. teilweise nicht bedient und sollten möglichst keinen Kontakt zur lokalen Bevölkerung haben.

In „Madgermanes“ wird auch auf den inneren Konflikt der Heimatlosigkeit von Menschen, die zwischen zwei Kulturen aufgewachsen sind oder leben, und sich in keiner von beiden so richtig akzeptiert und zu Hause fühlen, eingegangen. Denn die Arbeiter*innen wurden meist sehr jung mit 17 oder 18 Jahren in die DDR zum Arbeiten geholt, haben sich hier eingelebt und sich eine Perspektive erhofft. Aber nach der Wende verloren fast alle ihre Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und wurden wieder zurückgeschickt, wo sie nichts hatten, da der größte Teil ihrer Löhne einbehalten worden war. Die Graphic Novel besticht durch klare Zeichnungen, welche die Gefühle und Eindrücke der Protagonist*innen anschaulich machen und den Leser*innen einerseits die historischen Ereignisse, und anderseits die menschlichen Schicksale nahe bringen ohne dabei pathetisch, kitschig oder übertreibend zu wirken. Somit gelingt das Einfühlen in die Figuren sehr leicht und der/die Leser*in bekommt gleichzeitig einen kleinen Eindruck vom Alltagsleben in der DDR.

Birgit Weyhe: „Madgermanes“; avant Verlag, 2016; 240 Seiten, 24,95 €; ISBN 978-3-945034-42-2

Alltagsleben nach Tschernobyl und Fukushima

Da dieses Jahr auch das Jubiläum der beiden bisher größten Atomkatastrophen, Tschernobyl 30 Jahre und Fukushima 5 Jahre, ist, hat der Egmont-Verlag eine Graphic Novel mit dem Thema und Titel „Tschernobyl“ sowie den Manga „Daisy aus Fukushima“ auf den Markt gebracht. Während erstere für jung wie alt geeignet scheint, jungen und alten die Gefahr welche von Atomkraft ausgeht, nahe zu bringen, scheint letzteres vom Stil her eher für jüngere Menschen geeignet zu sein, wobei das natürlich auch Geschmackssache ist.

Die Graphic Novel „Tschernobyl – Rückkehr ins Niemandsland“ von Natacha Bustos und Francisco Sánchez wartet mit klaren Zeichnungen und Bildsprache auf, welche den/die Leser*in schnell in die Geschichte einsaugt und von drei Generationen einer Familie handelt, die von der Atomkatastrophe betroffen ist und diese sogar auseinander reißt. Das Buch ist in drei Abschnitte gegliedert, die jeweils eine Familiengeneration und ihre Erfahrungen durch die Katastrophe beschreibt.

Durch die sehr gut verständliche Bildsprache, die die verschiedenen Charaktere, Situationen und Gefühle sehr eingängig darstellt und somit ein Mitfühlen der Geschichte ermöglicht, wird das Nacherleben dieser unvergleichlichen Katastrophe etwas greifbarer für den/die Leser*in. Somit wird auch die große Gefahr, die von Atomkraft ausgeht und damit auch die immense Relevanz, sich auch heute gegen die Atomindustrie einzusetzen, deutlich. Schade, dass es an einem Aufruf dazu am Ende des Buches fehlt und der/die Leser*in mit dem Eindruck zurückgelassen wird, dass das einerseits Geschichte ist und andererseits keine praktischen Handlungsoptionen für jedeN aufgezeigt werden, von Stromanbieter*in wechseln zu Protest auf der Straße und selbstorganisierte, dezentrale Energieversorgung, um den Leser*innen den Schritt von passiven Konsument*innen hin zu aktiv Handelnden zu erleichtern. Dennoch glänzt das Buch mit einer guten Hintergrundrecherche der Autor*innen und Zeichner*innen, die das Sperrgebiet unter anderem auch selber besucht haben. Beispielsweise wird die gespenstige Stimmung der verlassenen Stadt Prypjat gut herüber gebracht. Des Weiteren thematisiert das Buch die auch heute aktuellen Themen Flucht und Vertreibung, die durch die Evakuierung der Bevölkerung, dargestellt von den Protagonist*innen, verursacht wird.

„Tschernobyl“ gibt außerdem einen kleinen Einblick in die Zeitgeschichte der damaligen Sowjetunion und des Alltagslebens, sowie die desaströse Informationspolitik der Regierung, d.h. Informationsverheimlichung bzw. späte Weitergabe.

Sánchez, F. u.a.: „Tschernobyl – Rückkehr ins Niemandsland“; EGMONT Verlag, Köln, 2016; 189 Seiten, 19,99 €; ISBN 978-3-7704-5525-6

Der Manga „Daisy aus Fukushima“ von Reiko Momochi behandelt vor allem den Versuch der Menschen im Umgang mit der Katastrophe wieder einen normalen Alltag zu finden und der Freundschaft zwischen vier Oberschüler*innen, die durch den Atomgau auf harte Proben gestellt wird. Die Folgen des Atomunfalls auf das Leben der Menschen variieren dabei von einem verzweifelten Suizidversuch bis hin zum Verlassen von Fukushima und damit den Freund*innen. Der Manga basiert auf Interviews der Autorin mit vielen Schüler*innen und Anwohner*innen nach dem Atomgau in Fukushima sowie Recherchen. Als Grundlage dient außerdem der Roman „Pierrot“ von Teruhiro Kobayashi, Darai Kusanagi und Tomoji Nobuta. Es gelingt, den Leser*innen die vielen Folgen des Unglücks auf unpathetische oder kitschige Weise nahe zu bringen. Beispielsweise dürfen Kinder nicht mehr draußen spielen, es gibt verheerende Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft, Tourismus und Landwirtschaft, sowie damit einhergehend die sozialen Strukturen u.s.w.

Durch die Protagonistin Fumi wird die innere Zerrissenheit veranschaulicht zwischen einerseits von Fukushima weg an einen sicheren, unverstrahlten Ort flüchten zu wollen und andererseits dem daraus resultierenden schlechten Gewissen, dann die Freunde und Nachbar*innen im Stich zu lassen. Auch wird deutlich, wie durch die Katastrophe die Gedanken über die Gefahr der Radioaktivität und die Ungewissheit, wie groß die Gefahr/Strahlung wirklich ist, jeden Moment des Tages durchziehen: „Jeden Tag Sorgen und Angst“. Auch in diesem Buch wird die Entwurzelung der Menschen durch Evakuierung und die damit einhergehende Traurigkeit und Verzweiflung deutlich: „Während der langen Flucht sind viele alte Menschen noch vor dem Sommer gestorben.“. Der große Verlust der Heimat bzw. des Zuhauses und die daraus entstehenden inneren Schmerzen münden auch in Selbstmord. Die positive und überraschende Wendung ist, dass Fumi beschließt politisch aktiv zu werden, um etwas in der Welt zu verändern, so dass so etwas möglichst nicht mehr passieren kann: „Wer immer nur schweigt und jammert, kann nichts verändern.“.

Vom Zeichenstil her ist es ein typischer Manga und die Umschlaggestaltung macht die jugendliche Zielgruppe deutlich. Da das Thema aber generationsübergreifend wichtig ist und es weder grausame noch extrem langweilige Zeichnungen gibt, scheint es für alle Altersgruppen, die sich für das Thema oder Manga interessieren, geeignet und mensch sollte sich nicht von dem teeniestyligen Layout des Umschlages abschrecken lassen.

Reiko Momochi: „Daisy aus Fukushima“; EGMONT Verlag, Köln, 2016; 13,99€; ISBN 978-3-7704-9162-9

Da die meisten in Deutschland erscheinenden Graphic Novels von bürgerlichen Verlagen und der herrschenden bürgerlichen Klasse verlegt werden, können natürlich in dem Sinne keine emanzipatorischen Ansprüche an die Auswahl gelegt werden. Aber zur allgemeinen Bildung und zum Genießen von zeitgenössischer Kunst im Alltag, in dem mensch normaler Weise weder die Zeit noch die finanziellen Möglichkeiten hat Galerien oder anderes zu besuchen, können Graphic Novels eine leicht erreichbare Konsummöglichkeit sein. Zwar lassen sich Graphic Novels auch nicht als gerade günstig bezeichnen, aber immerhin stehen sie theoretisch durch Bibliotheken allen Menschen zur Verfügung.