2020-01:Corona-Virus und Indigene in Nordamerika

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Corona-Virus und Indigene in Nordamerika

Obwohl der erste Infektionsfall bereits im Januar 2020 in den USA bekannt wurde, verkündete US-Präsident Donald Trump noch wochenlang, er habe "alles unter Kontrolle". Doch mit mehr als drei Millionen ((UPDATEN)) bestätigter COVID-19-Infizierter hat sich das Virus erschreckend schnell in den USA ausgebreitet. Mehr als 130.000 Menschen ((UPDATEN)) sind bereits gestorben, und das Virus trifft vor allem die Schwächsten in der Gesellschaft mit besonderer Härte – die Indigenen in den USA und Kanada.

Situation in den USA

Gebannt schauen die Menschen weltweit auf die neuesten Zahlen der Johns Hopkins University, einer Privatuniversität in Baltimore, Maryland, welche die Entwicklung der Corona-Pandemie umfassend beobachtet, erforscht und dokumentiert. Sie hat sich weltweit zur zentralen Informationsinstanz der aktuellen Corona-Zahlen entwickelt. Anders als in Deutschland, wo das Robert-Koch-Institut im Auftrag der Bundesregierung tätig ist, gibt es in den USA keine einheitliche, offizielle Stelle, welche die Daten zentral und übergreifend erfasst. Zuständig wäre im Grunde das Center for Disease Control (CDC), eine Bundesbehörde mit Sitz in Atlanta, doch die Behörde ist dafür nicht genügend ausgestattet (ihre erfassten Corona-Werte liegen deutlich unter jenen der Johns Hopkins University), weshalb Trumps Vorgänger Barack Obama in Folge der Ebola-Epidemie 2014 ein eigenes Pandemiezentrum gründete, das der jetzige Präsident 2018 – gegen alle Warnungen – auflöste.

Gesundheitsversorgung der Indigenen in den USA

Mit Rassismus sind die Indigenen hinlänglich vertraut. Das historische Trauma der fahrlässig und/oder gezielt gegen sie eingesetzten Krankheiten und Pandemien, die ganze Völker auszulöschen drohten und Hunderttausende oder mehr (manche schätzen bis zu 1,5 Millionen in Nordamerika) das Leben kosteten, hat sich tief eingeprägt. Angesichts der allgemeinen Gesundheitssituation werden die Indigenen von der Pandemie besonders hart getroffen. Die Johns Hopkins University, die ein eigenes Center for American Indian Health unterhält, verweist nicht nur auf die gesundheitlichen Folgen der Pandemie selbst, sondern auch auf die Konsequenzen, die sich aus den Maßnahmen zu ihrer Eindämmung ergeben. So seien in manchen indigenen Gemeinden 80% der Kinder auf Schulspeisungen angewiesen, die jedoch nun ausbleiben und ohne die die Kinder erhebliche Nahrungsdefizite zu erleiden haben.

Indigene sterben drei Mal häufiger an Diabetes und zwei Mal häufiger an Erkältungskrankheiten oder Lungenentzündung als US-Amerikaner im Durchschnitt, zudem erkranken sie sechs Mal häufiger an TBC – was angesichts der Lungenkrankheit COVID-19 eine besondere Gefährdung darstellt. Auch die letzten Epidemien forderten eine hohe Zahl an Opfern: Die Todesrate der Indigenen lag bei der "Spanischen Grippe" 1918 vier Mal höher als im US-Durchschnitt (American Indian Quarterly, 2014), u.a. starben 72 der 80 Einwohner der Inupiat-Siedlung der Brevig Mission. Bei der H1N1-Pandemie 2009 waren Indigene ebenfalls besonders betroffen. Während die Todesrate im US-amerikanischen Durchschnitt bei 0,9 je 100.000 Einwohnern lag, betrug sie bei den Native Americans und Alaska Natives mit 3,7 je 100.000 das Vierfache (Internationaö Journal of Epidemiology, 2015).

Zuständig für die Gesundheitsversorgung der Indigenen in den USA ist der Indian Health Service (IHS), der nur zwölf Regionalbüros unterhält und chronisch unterfinanziert ist. Außerdem versorgt der IHS nur 2,56 Millionen der über fünf Millionen Indigenen in den USA, d.h. diejenigen der 573 anerkannten Tribes (Stämme) in den Reservaten. Nach eigenen Angaben vom 19. März 2020 (an diesem Tag wurde COVID-19 von der WHO zur Pandemie erklärt) verfügte der IHS zu diesem Zeitpunkt nur über landesweit 1.257 Klinikbetten, darunter 37 Intensivbetten sowie 81 Beatmungsgeräte! Nach Schätzungen von Gesundheitsexperten bräuchte der IHS ein jährliches Budget von $37 Milliarden, tatsächlich beträgt das Budget aber nur $6,04 Milliarden jährlich, also nur ein Sechstel des Bedarfs, und hat sich in den letzten Jahren kaum erhöht. Die Gesundheitsausgaben für Indigene betragen nur ein Viertel der Ausgaben für US-Amerikaner.

70% der Indigenen leben heute außerhalb der Reservationen und ein Drittel der unter 65-Jährigen ist nicht krankenversichert. Durch den "Affordable Care Act" ("Obama-Care", 2010) konnte die Zahl der nichtversicherten Amerikaner von 15% auf knapp 10% gesenkt werden. Doch die meisten Amerikaner sind über ihren Arbeitgeber versichert – und die durch die Corona-Krise inzwischen (Stand: Mitte April) auf 17 Millionen angewachsene Zahl der Arbeitslosen steht damit ohne Gesundheitsversorgung da. Im Zuge von "Obama-Care" wurde auch der "Indian Health Care Improvement Act" (IHCIA) verabschiedet, doch dies war nur der bekannte "Tropfen auf den heißen Stein".

Ausbreitung des Virus in "Indian Country"

Die berühmten Wasserfälle Havasu Falls mussten am 16. März geschlossen werden, um eine Gefahr der rund 200 Indigenen in Supai durch infizierte Touristen zu reduzieren. Eine Gesundheitsversorgung in dem Dorf inmitten des Grand Canyon ist nicht möglich.

Auch für die größte Reservation der Navajo Nation mit 180.000 Dineh ist die hygienische und medizinische Versorgung äußerst problematisch. Wie 2009 bei der H1N1-Pandemie ist sie auch jetzt von der COVID-19-Pandemie besonders betroffen. Nur den wenigsten Touristen, die sich an den Sehenswürdigkeiten wie Monument Valley oder Grand Canyon ergötzen, dürfte bekannt sein, dass nur 40% der Häuser über fließend Wasser verfügen. Für die ganze Region gibt es nur elf ambulante „Gesundheitszentren“, von denen nur wenige über einen 24-Stunden-Service verfügen und die meisten abends und an den Wochenenden geschlossen sind, sowie eine Klinik, das Fort Defiance Indian Hospital. Die Navajo Nation verkündete am 11. März 2020 den Notstand im Reservat. Da nicht alle Dineh Englisch sprechen, gibt es inzwischen eine eigene Übersetzung in ihre Sprache – COVID-19 heißt nun „Dikos Ntsaaígíí-19“. Als die erste Corona-Infektion bei den Dineh am 17. März bekannt wurde, verfügte das Reservat nur über 170 Klinikbetten, davon 13 Intensivbetten und 28 Beatmungsgeräte.

Inzwischen haben die Arizona National Guard und der Katastrophenschutz (Federal Emergency Management Agency, FEMA) zwei Feldlazarette in Chinle und Kayenta errichtet – zum Teil mit Spenden von (nicht-indigenen) Geschäftsleuten der Region. Das Problem bleibt aber die Ausstattung mit Schutzausrüstung wie Masken, Schutzanzüge oder Handschuhe.

Auch in den Bundesstaaten North und South Dakota entspricht die medizinische Versorgung keineswegs den notwendigen Standards. Nachdem ein Mitarbeiter des Indian Health Service (IHS), des indianischen Gesundheitsdiensts, auf der Yankton Sioux Tribe Reservation in South Dakota vergangene Woche positiv auf COVID-19 getestet wurde, beschloss die Schulbehörde die Schließung der Marty Indian School. Am Freitag, den 13. März, verkündete die Stammesregierung eine „Declaration of Disaster“, d.h. den Katastrophenzustand für das Reservat. Sämtliche Einrichtungen und Büros wurden geschlossen und es wurde ein Reiseverbot verhängt.

Für die Indigenen – ob im Südwesten oder in den Plains – ergibt sich eine besonders prekäre Situation, da die Familien auf engstem Raum zusammenleben, darunter natürlich auch die Alten, die vom Corona-Virus wesentlich stärker betroffen werden. 51% der Indigenen in South Dakota leben zudem unterhalb der Armutsgrenze - Desinfektionsmittel können sie sich nicht leisten - und viele Indigene misstrauen dem IHS, so dass sie keine Hilfe von staatlicher Seite in Anspruch nehmen, was einer Ausbreitung des Virus weiteren Vorschub leisten könnte. Misstrauen und Angst sind historisch begründet: Seit Beginn der Kolonialisierung wurden immer wieder Krankheiten und Seuchen gezielt gegen die indigene Bevölkerung eingesetzt.

Besonders bedrohlich entwickelt sich die Situation auch in den Pueblos in New Mexico. Als Hotspots der Infektionen gelten derzeit Zuni Pueblo, San Felipe Pueblo und Zia Pueblo. Für alle Pueblos sind die Zufahrtsstraßen gesperrt und es gelten strikte Ausgangssperren. Die Dimension der Infektionen verdeutlichen die Zahlen im Zia Pueblo – bei einer Bevölkerung von nur 646 Bewohnern waren am 11. April bislang 33 Infektionen und ein Todesfall bekannt. Die Infektionsrate im Zia Pueblo ist mit 5 % höher als die in New York City. "Wir könnten ausgelöscht werden", sorgte sich Kevin Allis, Direktor des National Congress of American Indians.

Auch in den Bundesstaaten North und South Dakota entspricht die medizinische Versorgung keineswegs den notwendigen Standards. Am 10. März erklärte bereits Oglala-Präsident Julian Bear Runner den Notstand, nachdem der Oglala Sioux Tribe bis dato vom IHS zunächst keinen einzigen Virentest zur Verfügung erhielt. Bis zum 6. April gab es für 50.000 Stammesmitglieder nur 24 Testkits, sechs Beatmungsgeräte und vier Intensivbetten in Pine Ridge. Vor allem erhöhen die Arbeitercamps entlang der Pipelines – etwa nahe der Fort Berthold Reservation - die Gefahr der weiteren Ausbreitung des Virus.

An der Gesundheitsversorgung der Indigenen in den USA wurde schon immer gespart und dies kann nun angesichts der Corona-Pandemie verheerende Folgen nach sich ziehen, denn es fehlt an allem: Virentests, Medikamente, Bettenkapazitäten, medizinisches Personal etc.

Auf Initiative von Senator Tom Udall (Demokrat aus New Mexico) hatten 27 Senatoren ein sofortiges Hilfspaket für die indianische Gesundheitsversorgung gefordert. Auch das US-Abgeordnetenhaus hatte ein Notprogramm für 2,5 Millionen Indigene in den Reservaten eingebracht. Der National Council of Urban Indian Health drängt jedoch darauf, auch finanzielle und medizinische Hilfen für die Indigenen jenseits der Reservate zur Verfügung zu stellen, die meist ohne jede Gesundheitsversorgung in den Städten leben und inzwischen die Mehrheit der indigenen Bevölkerung bilden. Bei der letzten großen Grippe-Epidemie 2009 lag die Sterblichkeitsrate der Indigenen viermal höher als der US-Durchschnitt.

Der "Coronavirus Aid, Relief, and Economic Security Act (CARES)" vom 27. März 2020 über 2 Billionen US-Dollar stellte auch Mittel in Höhe von 10 Mrd. Dollar für ein Hilfsprogramm für Indigene bereit. Dies sind überwiegend Wirtschaftshilfen, für den IHS sind davon davon nur 1,03 Mrd Dollar. Bis 10.04. hat die Navajo Nation ihrem Präsidenten Jonathan Nez zufolge noch keinen Cent aus dem Hilfsprogram CARES erhalten.

Bis die ersten $40 Millionen der vom Kongress bewilligten Hilfsgelder ausgezahlt werden konnten, dauerte es aufgrund bürokratischer Versäumnisse jedoch zwei Wochen. In einer Stellungnahme an den Kongress erklärte des Center for Disease Control (CDC) zudem, dass die Stämme und IHS-Einrichtungen in North Dakota, South Dakota, Nebraska und Iowa bei den ersten Zahlungen nicht berücksichtigt werde könnten – das Geld sei so knapp, dass das CDC "Prioritäten setzen müsse". Man werde sich jedoch um die baldige Auszahlung weiterer Finanzhilfen bemühen.

Besonders prekär ist die Situation der Indigenen in den Städten. Der National Council of Urban Indian Health drängt darauf, auch finanzielle und medizinische Hilfen für die Indigenen jenseits der Reservate zur Verfügung zu stellen. Allerdings wollen manche Indigene nicht auf die Hilfe aus Washington vertrauen. So haben Indigene verschiedene Hilfsprogramme über das Internet initiiert. Larissa Nez, eine Sozialarbeiterin der Navajo Nation (Dineh), rief das "Adopt-a-Native-Elder-Program" ins Leben, um Elders auf dem Land mit Lebensmittel und anderen notwendigen Gütern zu versorgen. Die Native Americans in Philanthropy haben gemeinsam mit der National Urban Indian Family Coalition und dem Decolonizing Wealth Project einen "Covid-19 Fund" gegründet, der die Indigenen in den Städten unterstützt, denn mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit verschärft sich ihre Situation zusätzlich. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie spüren auch die indigenen Kasinos, deren Gewinne häufig die Lücken im Stammesbudget hinsichtlich Gesundheitsversorgung schließen müssen.

Corona-Virus und Indigene in Kanada

Zum Drucktermin beläuft sich die Zahl der Infizierten in Kanada auf 51.150 Personen – die Hälfte der Fälle wurde in Quebec gemeldet. Des Weiteren besonders betroffen sind Ontario (16.500), Alberta (4.850) und British Columbia (2.000) ((UPDATEN)). Wie auch in den USA sind die indigenen Gemeinden in Kanada kaum gerüstet für die aktuelle Situation. Gerade in British Columbia, wo viele indigene Völker in kleinen Reservaten mit völlig überbelegten Häusern ohne fließend Wasser leben, die weder über Ärzte noch über medizinische Einrichtungen verfügen und Patienten in weit entfernte Kliniken geflogen werden müssten, ist die Lage angespannt.

Auch in Kanada hinkt die Versorgung der Indigenen, insbesondere im medizinischen Bereich den Notwendigkeiten weit hinterher. Am 25. März verkündete die Regierung ein Corona-Hilfsprogramm in Höhe von 300 Millionen kanadische Dollar für rund 1,5 Millionen Inuit, Metis und First Nations: $215 Millionen für First Nations, $45 Millionen für Inuit, $ 30 Millionen für Metis und $15 Millionen für regionale und städtische Organisationen. Wie üblich war die Ankündigung des Hilfsprogramms eingebettet in nette Floskeln der Anerkennung für die "Stärke und Resilienz" der indigenen Völker und des „guten Willens“ Kanadas. Doch die Indigenen glauben nicht, dass die $300 Millionen ausreichen werden, insbesondere für die besonderen Bedürfnisse der "Fly-in-Communities", die mit dem aufziehenden Frühlingstauwetter nun nicht mehr über gefrorene Winterstraßen erreichbar sind. Außerdem ist noch nicht klar, wann die Gelder genau bei den Indigenen ankommen werden, denn mit einer Auszahlung ist nicht vor Mai zu rechnen. Dabei sind die bestehenden Probleme bereits gewaltig genug, wie ein paar Beispiele belegen: 76% der indigenen Kinder in Manitoba leben unter der Armutsgrenze, die Lebenserwartung der Indigenen liegt 15 Jahre unter dem kanadischen Durchschnitt, die Tuberkulose-Rate pro 100.000 Einwohner liegt bei den Indigenen bei 34,1 (nicht-indigene Kanadier: 0,6). Noch immer besteht in über 100 indigenen Gemeinden eine "drinking water advisory", d.h. das Wasser ist gesundheitsgefährdend.

Völlig überfordert erklärte am 10. März Marc Miller, Kanadas Minister für indigene Dienste, die Regierung sei sich der besonderen Bedrohung der Indigenen bewusst und arbeite an einem Notfallplan für die indigenen Gemeinden, der auch die Versorgung mit Hygienepräparaten und Flaschenwasser sowie Notzelten vorsehe. Der Notfallplan der Regierung ist ein erschreckendes Armutszeugnis für die Missachtung der Indigenen. So kritisierte Nunavuts Senator Dennis Patterson die völlig unzureichenden Pläne: "Auf welchem Planeten lebt die Regierung eigentlich. Dies ist die Arktis. Ich will hier keine COVID-19-Opfer in Zelten bei Minusgraden inmitten von Eis und Schnee um Luft ringen und leiden sehen."

Ungeachtet der Ankündigung von Miller musste selbst Gesundheitsministerin Patty Hajdu einräumen, dass es trotz der prognostizierten Infektion von 30-70% aller Kanadier bislang für die Indigenen keine konkreten Einschätzungen, Empfehlungen oder gar Maßnahmen gebe. Die Regierung, die die Band Councils (Stammesverwaltungen) der First Nations gerne unter Kuratel stellt, wenn es um Ressourcenfragen geht, erklärt nun, man erkenne die „Autorität“ der Band Councils an, geeignete Entscheidungen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus zu treffen. Sprich: Ottawa lässt die Indigenen einfach im Stich.

Derzeit (Stand: Mitte April) liegen die Infektionszahlen noch verhältnismäßig niedrig, doch bedeutet dies nicht, dass die Pandemie in den indigenen Gemeinden schwächer ausfallen wird als in den USA – die Entwicklung ist nur zeitversetzt. Marc Miller berichtete am 12. April in einer Pressekonferenz zwar "nur" von 46 bekannten indigenen Infektionsfällen, warnte jedoch selbst, dass zum jetzigen Zeitpunkt niemand eine Prognose für die weitere Entwicklung abgeben könnte. Dies kann nicht wundern, denn Kanada, das sonst immer gerne von Transparenz spricht, hat keine zentralen Datenbanken, die eine verlässliche Aussage über die Situation in den Reservaten gibt – ganz zu schweigen von der Situation in den Städten. Angesichts der Obdachlosenzahlen unter Indigenen in Metropolen wie Vancouver oder Montreal kann man das Ausmaß der Covid-19-Pandemie nur erahnen. Wer jedoch genauere Zahlen sucht, muss sich durch unzählige Medienmeldungen kämpfen, während die offiziellen Stellen vor guten Ratschlägen strotzen – aber eben nicht mit Fakten aufklären. Kanada wirkt schlicht überfordert.

In British Columbia haben bereits 82 der 204 First Nations Reserves einen Lockdown verhängt – vor allem um Außenstehende aus den Siedlungen fernzuhalten. Ihre Sorge gilt nicht nur der Gesundheit, sondern auch dem Überleben ihrer Kultur. Die besonders gefährdeten Elders sind die Hüter der Traditionen – vor allem der mündlichen Überlieferungen und der Sprache, deren Überleben massiv bedroht ist (vgl. Coyote Nr. 119).

Am 24. März erklärte Perry Bellegarde, Präsident der Assembly of First Nations, einen nationalen Notstand. Selbst ohne die Bedrohung einer Pandemie ist die Gesundheitsversorgung der Indigenen ein verwirrender Flickenteppich, der klare Strategien und Maßnahmen behindert. Was normalerweise schon ein Problem ist, kann sich angesichts der Corona-Pandemie zur Katastrophe entwickeln. Die Indigenen haben die Erfahrungen aus der letzten H1N1-Pandemie 2009 nicht vergessen. Betroffene First Nations in Manitoba baten die Bundesregierung damals um Nothilfe, doch statt medizinischer Hilfe oder Ausstattung erhielten sie nur eine Ladung Leichensäcke. Wo ist der Aufschrei der kanadischen Gesellschaft angesichts dieser Ungleichheiten, fragte Aktivistin Pamela Palmater in einem Gastbeitrag auf CBC, doch die Frage bleibt wohl rhetorisch.

Schon am 12. März war ein Treffen zwischen Trudeau, den Ministerpräsidenten der Provinzen und Vertretern indigener Organisationen geplant, das jedoch aufgrund von Trudeaus selbstgewählter Quarantäne abgesagt wurde. Stattdessen hielt Trudeau nur eine Telefonkonferenz mit den Funktionären der Assembly of First Nations, Inuit Tapiriit Kanatami und des Metis National Council ab, welche nicht die Gesamtheit der Indigenen repräsentieren.

Corona-Virus und der Widerstand der Wet’suwet‘en

Das Corona-Virus dürfte nicht der einzige Grund gewesen sein, weshalb Trudeau lieber nicht mit der indigenen Basis konfrontiert werden wollte. Hatte er unlängst noch versprochen, die UN-Deklaration der Rechte der indigenen Völker (UNDRIP, 2007) in kanadisches Recht umsetzen zu wollen, zeigte sich in den vergangenen Wochen, wie wenig das Wort des Premierministers wert ist, wenn es um indigenes Land und die Mitsprache der Indigenen bei der Nutzung von Ressourcen geht – dem Kernprinzip der UNDRIP.

Am 6. Februar 2020 hatte die Bundespolizei RCMP das Protestcamp der Unist’ot’en in British Columbia gestürmt, mit dem sich die Indigenen und die traditionellen Chiefs gegen die Coastal Gaslink von LNG Canada wehren, denn die Gaspipeline führt vom Nordosten der Provinz quer durch das traditionelle Land der Wet’suwet’en bis nach Kitimat an die Pazifikküste.

Seitdem sorgen die Proteste in ganz Kanada für Schlagzeilen, während in Europa niemand darüber berichtet. Indigene und Unterstützer organisierten im ganzen Land Demos und Mahnwachen, errichteten Blockaden, legten insbesondere mit Unterstützung der Mohawk den Bahnverkehr im Osten Kanadas lahm und besetzten Brücken und Regierungsgebäude. Die Welle der Aktionen und der Solidarisierung mit den Wet’suwet’en erinnerte an den Aufbruch der „Idle No More“-Bewegung 2012, die unter Trudeaus Vorgänger Stephen Harper Kanada erschütterte, aber auch an Oka 1990, als die Mohawk in Quebec ihr Land und ihre Rechte durch eine 270-tägige Blockade verteidigten.

Vor dem Treffen mit Trudeau hatte AFN-Chief Pierre Bellegarde noch die Bedeutung der UNDRIP als „Mittel der Versöhnung“ (Trudeaus Lieblingsphrase) beschworen, die dann der Tagesaktualität um das Corona-Virus geopfert wurde.

Der Widerstand der Wet’suwet’en und ihrer Unterstützer ist ungebrochen, doch angesichts der Corona-Pandemie lassen sich die bisherigen Mittel und Methoden nicht aufrechterhalten, weshalb sie die Aktivitäten nun ins Digitale verlagern. Mit einem Aufruf vom 16. März forderten sie zu einer „Woche der Online-Aktion“ auf und baten um Briefe und Emails sowie Posting in den sozialen Medien zur Unterstützung ihrer Forderungen.

Monika Seiller, Aktionsgruppe Indianer & Menschenrechte e.V.