2022-01:Befreiung hört nicht beim Menschen auf: Unterschied zwischen den Versionen

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=== Worüber wir mit Euch diskutieren wollen ===
 
=== Worüber wir mit Euch diskutieren wollen ===
Veganismus wird oft missverstanden als individuelle Lifestyle-Entscheidung hip­per Großstädter_innen. Wie können wir Veganismus stattdessen als po­litische Praxis fassen, die sich effektiv gegen die systematische Gewalt und Ausbeutung fühlender Lebewesen rich­tet? Als eine Haltung, die menschli­che und tierliche Bedürfnisse zusammen­denkt – im eigenen Verhalten eben­so wie in der kollektiven Organisie­rung? Damit einhergehend:
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Veganismus wird oft missverstanden als individuelle Lifestyle-Entscheidung hip­per Großstädter*innen. Wie können wir Veganismus stattdessen als po­litische Praxis fassen, die sich effektiv gegen die systematische Gewalt und Ausbeutung fühlender Lebewesen rich­tet? Als eine Haltung, die menschli­che und tierliche Bedürfnisse zusammen­denkt – im eigenen Verhalten eben­so wie in der kollektiven Organisie­rung? Damit einhergehend:
  
 
# Wie können wir die Auswirkungen für Tiere konkret mit einbeziehen beim Schreiben von Aufrufen und Papie­ren, wenn es z.B. um Klimakatastro­phe, Umweltzerstörung, Aus­beu­tung oder Gewalt im Kapitalismus geht – um immer sichtbar zu machen, dass nicht nur Menschen zu den Opfern des gegenwärtigen Gesellschaftssys­tems gehören?
 
# Wie können wir die Auswirkungen für Tiere konkret mit einbeziehen beim Schreiben von Aufrufen und Papie­ren, wenn es z.B. um Klimakatastro­phe, Umweltzerstörung, Aus­beu­tung oder Gewalt im Kapitalismus geht – um immer sichtbar zu machen, dass nicht nur Menschen zu den Opfern des gegenwärtigen Gesellschaftssys­tems gehören?

Aktuelle Version vom 11. Oktober 2022, 08:44 Uhr

— Ein Aufruf an unsere Genoss*innen —

Befreiung hört nicht beim Menschen auf

Als Linke hinterfragen wir den Status quo: Wir bekämpfen strukturelle Ausbeu­tung und Gewalt, reflektieren Selbst­verständlichkeiten und un­tergra­ben starre Traditionen. Auf Dau­er ist keine Norm vor uns sicher. Wir ana­lysieren und kritisieren Formen der Unterwerfung, Mar­gi­nalisierung und Ausgrenzung. Die­­se Grundsätze ver­binden uns über unsere vielen Strö­mungen und Ansätze hinweg. Bei all unseren Unterschieden wollen wir so­lidarisch miteinander sein. Das heißt unter anderem, die Forderungen und Anliegen anderer Gerechtigkeitsbe­wegungen mitzudenken und zu unter­stützen – oder die Kämpfe direkt zu ver­binden. Die Idee, die Verdammten die­ser Erde trotz all unserer Unterschie­de zu vereinen, trägt eman­zipato­rische Projekte seit eh und je. Dass wir einander fremd sind, ist für uns kein Grund, nicht zusammen zu kämp­fen. Wir nähern uns an, streiten uns auch; doch wo immer es gelingt, ma­chen wir Politik auf Grundlage unse­rer Gemeinsamkei­ten.



Nun gibt es von jeher auch Linke, die So­lidarität mit jenen üben, mit denen sie sich nicht gemeinsam organisieren und keine politische Debatte führen kön­nen. Mit den ganz Anderen. Mit je­nen, von denen wir uns scheinbar ab­grenzen müssen, um als vollwertige Men­schen zu gelten:

Solidarität mit den Tieren

„So lange ich denken kann, lag der Ur­sprung meiner Revolte gegen die Mäch­tigen immer in meinem Schrecken über das Leid, das den Tieren an­getan wird“, schrieb die Kämpferin der Pariser Kommune, Louise Michel. Auch Rosa Luxemburg sah sich in einer Schicksalsgemeinschaft mit den un­terdrückten und ausgebeuteten Tieren. Sie schildert in einem ihrer Briefe aus dem Gefängnis, wie ihr die Tränen he­rabrannen, als sie Zeugin von Gewalt gegen einen Lastbüffel wurde: „wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumpf und sind nur eins in Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht“.

Heute sehen wir ein krasses Missverhält­nis zwischen einer Industrie, welche die Ausbeutung tierlicher Körper auf ein nie gekanntes Niveau perfider Per­fektion gehoben hat, und einer Linken, welche die Hauptbetroffenen dieser systematischen Gewalt zu häufig ig­noriert. Es gibt viele gute Gründe, die Tierindustrie politisch zu bekämpfen – die Massenproduktion von Fleisch, Milch und Eiern heizt die Klima­katastrophe an, schädigt Ökosysteme lokal und global und ist für mas­sive Ungerechtigkeiten gegenüber Men­schen verantwortlich. Aber da­rü­ber hinaus müssen wir die Situation der Tiere wahrnehmen, die diesem Sys­tem vollständig ausgeliefert sind.

Ein Herrschaftsverhältnis par excellence

Die moderne Nutzung von Tieren bedeu­tet die totale Unterwerfung des Le­bens unter die Ratio des Kapitals. Ei­nige Schlaglichter am Beispiel der Hüh­ner: Die Zucht von Hochleistungsras­sen legt den Tieren quälende körper­liche Eigenschaften in die Gene. An­ders ist das Wachstum vom 40-Gramm-Küken zum kiloschweren Broi­ler in vier bis sechs Wochen nun ein­mal nicht zu haben. Ihr kurzes Leben verbringen sie in hochtechnisierten Hallen ohne Tageslicht zwischen rund 40.000 Leidensgenoss*innen. Aus­misten ist Bauernhofromantik: Gerei­nigt wird der Stall das erste Mal, nach­dem die Tiere zur Schlachtung ab­geholt sind, alles andere wäre zu auf­wändig. Nach einigen Stunden im Kä­fig-LKW erreichen die Hühner eine mo­derne Variante der ältesten Fließband-Fabrik der Welt: den Schlachthof. Ein Fleischkonzern, der auf sich hält, löscht in jeder solchen Anlage min­destens 100.000 Leben aus – am Tag. Was von den konsumierten Körpern übrig bleibt, landet auf der Müllhal­de. Geolog*innen sagen, dass die dort gesammelten Hühnerskelette als prä­gendes Fossil die Erdschicht des An­thropozäns kennzeichnen werden.

Die Details unterscheiden sich, sind in der Milch- und Eierproduktion, in der Schwei­nemast oder der Pelztierzucht aber nicht weniger grotesk. Und entge­gen verbreiteten Vorstellungen sieht es in Biobetrieben – die ohnehin nur ei­nen kleinen Bruchteil der verkauften Tier­produkte erzeugen – in zentralen Hin­sichten nicht anders aus. Auch auf je­dem tiernutzenden Ökohof werden Tie­re mit ihren Interessen und Vorlieben den Bedarfen der Produktion unter­geordnet. Wenn wir am Beispiel der Hühner bleiben, so werden sie auch im Bio-Bereich in Gruppen von ei­nigen Hundert bis zu mehreren Tausend Tieren gehalten, wo sie keine fes­te Sozialstruktur aufbauen können. Die so genannten Legehennen legen auf­grund der Züchtung mehr Eier, als ge­sundheitlich gut für sie wäre. Kein wirt­schaftlich genutztes Huhn bekommt die Gelegenheit, die eigenen Kü­ken aufzuziehen – auch Bio-Hühner werden in Brutschubladen ausgebrü­tet. Und in welchen Wirt­schafts­zweig wir auch schauen: Die Tiere wer­­den gewaltsam getötet, in aller Re­gel schon nach einem Bruchteil ihrer möglichen Lebensdauer.

Das Tier als Prototyp des Anderen

Die Strategie der Entmenschlichung, der Bezeichnung von Menschen als ‚nicht vollwertig‘, als ‚Tier‘ oder ‚Stück Fleisch‘ hat eine lange Tradition in ras­sistischen, sexistischen und ableisti­schen Unterdrückungsverhältnissen. Da­her das linke Grundprinzip, Menschen niemals ihre einzigartige Würde als Menschen abzusprechen. Die Forschung z.B. zu Rassismus und Sexismus zeigt aber auch Zusammenhänge zwi­schen der Herabwürdigung von Tie­ren und der Unterdrückung von Men­schen. Auf dem Weg in eine gerech­te Gesellschaft gilt es, all diese Un­terdrückungsformen hinter uns zu las­sen.

Natürlich unterscheiden wir Menschen uns in wichtigen Hinsichten von an­deren Tieren. Manche dieser Unterschie­de sind auch für linke Kämpfe re­levant – zum Beispiel gehört zur Befrei­ung aus Unterdrückung für Menschen dazu, der eigenen Stimme Gel­tung zu verschaffen und die eigene Iden­tität und die eigenen Ziele im poli­tischen Diskurs selbst zu definieren, an­statt nur von Anderen vertreten zu werd­en. Diese Fähigkeit haben die Tie­re nicht.

Jemand, nicht etwas

Kein Mensch kann aber abstreiten, dass alle fühlenden Lebewesen grundle­gende Bedürfnisse teilen. Wer einem Tier gegenüber steht, sieht jemanden, nicht etwas. Jemand anderen, sicher – aber seit wann sähe eine Linke im Anders­sein eine Legitimation für Ausbeutung und Unterwerfung? Aus einer Pers­­pektive der Gerechtigkeit ist schlicht nicht begründbar, wa­rum tierliche Grundbedürfnis­se den Interessen der Ag­rar­konzerne oder überhaupt ir­gend­welchen wirtschaftlichen Logiken un­tergeordnet wer­den sollten.

Allein aufgrund ihres Tierseins werden Milliarden fühlen­der Lebewesen heu­te ihrer grund­legenden Rechte beraubt. Solidarität und Gerechtig­keit se­hen anders aus. Wir leh­nen Ausbeutung und systema­tische Gewalt grundsätz­lich ab und stehen kon­se­quen­ter­wei­se fest an der Seite aller Un­ter­drück­ten. In der Befreiung der Tiere und der Eman­zipation der Menschen se­hen wir ein und denselben Kampf.

Deshalb:

Lasst uns Tiere in unsere Analyse und Kritik stets einbeziehen! Lasst uns mitein­ander über das Spektrum unserer Kämp­fe hinweg solidarisch sein! Lasst uns die Ablehnung von Gewalt und Aus­beutung gegenüber fühlenden Lebe­wesen als gemeinsame politische Pra­xis leben! Lasst uns zusammen kämp­fen – für eine antikapitalistische Ag­rarwende, für ein zukunftsfähiges Ver­hältnis zur Natur, und ganz klar auch: für die Tiere.

Worüber wir mit Euch diskutieren wollen

Veganismus wird oft missverstanden als individuelle Lifestyle-Entscheidung hip­per Großstädter*innen. Wie können wir Veganismus stattdessen als po­litische Praxis fassen, die sich effektiv gegen die systematische Gewalt und Ausbeutung fühlender Lebewesen rich­tet? Als eine Haltung, die menschli­che und tierliche Bedürfnisse zusammen­denkt – im eigenen Verhalten eben­so wie in der kollektiven Organisie­rung? Damit einhergehend:

  1. Wie können wir die Auswirkungen für Tiere konkret mit einbeziehen beim Schreiben von Aufrufen und Papie­ren, wenn es z.B. um Klimakatastro­phe, Umweltzerstörung, Aus­beu­tung oder Gewalt im Kapitalismus geht – um immer sichtbar zu machen, dass nicht nur Menschen zu den Opfern des gegenwärtigen Gesellschaftssys­tems gehören?
  2. Wie befreien wir uns von einem Den­ken in den Kategorien der Spezies, in dem das individuelle Tier lediglich als ‚Exemplar‘ herhält? Was verändert sich in unseren Analysen und Aktionen gegen Umweltzerstörung und Arten­sterben, wenn wir einzelne Tiere als Lebewesen mit eigenen Bedürfnissen und Interessen anerkennen?
  3. Können wir Veganismus als allgemei­nes Prinzip bei Veranstaltungen etab­lieren, die wir als linke Bewegungen organisieren – nicht nur bei Camps, sondern auch bei Workshops, Ver­anstaltungen in Seminarhäusern, Stra­ßenfesten? Als Statement gegen Tier­ausbeutung und Umweltzerstörung, aber auch aus Rücksicht auf dieje­nigen von uns, die sich dem Thema wirk­lich öffnen und für die es schwer er­träglich ist, ständig mit der als normal verkauften Gewalt in Form von ge­töteten und verarbeiteten Tierkörpern konfrontiert zu sein?
  4. Wie können wir für eine Menschenwür­de streiten, die sich nicht durch die Abgrenzung von den unterworfenen anderen Tieren definiert?
  5. Wie können wir den veganen Ökoland­bau stärken, um zukunftsfähige und weniger gewaltvolle Alter­nativen zur herrschenden Ag­rarindustrie zu etablieren?
  6. Was würde sich wohl in un­serer Gesellschaftsanalyse tun, wenn in linken Lesekrei­sen öfter einmal Texte der kritischen Mensch-Tier-Stu­dien gelesen würden (zum Beispiel die soziologischen Grundlagentexte von Bir­git Mütherich, die feminis­tische Kritik der Fleischindus­trie von Carol J. Adams, die antirassistischen Arbeiten zu Black Veganism von Aph Ko und Syl Ko)?
  7. Wie können wir über die Grenzen von Staaten und linken Strömungen hin­weg Solidarität organisieren, wenn Ak­tive der Tierbefreiungsbewegung wie­der einmal mit Repression überzogen werden?
  8. Was hält viele von uns davon ab, die Normalität der allgegenwärtigen Tö­tung, Zerstückelung und Vernutzung tierlicher Körper zu hinterfragen? Woher kommt die Angst davor, das Leid und das Unrecht der Tierindus­trie an sich heran zu lassen? Welche Kraft könnten wir daraus ziehen, wenn wir dieses abwehrende Unbehagen in Wut und Widerstand verwandeln würden? Wir freuen uns auf eine solidarische Diskussion!

Initiator*innen des Aufrufs: Hannah Engelmann, Friederike Schmitz, Didem Aydurmus

Zum Aufruf:

Update: Eine der Initiator*innen hat gerade ein thematisch anschließendes Buch mit dem Titel "Anders satt: Wie der Ausstieg aus der Tierindustrie gelingt" veröffentlicht. Mehr Informationen beim Verlag: