Diskussion:2012-01:Rechthaben

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Über Wahrheit und Ideologie

Eine Replik auf den Artikel "Rechthaben" von Dä

vega

I

Im nationalsozialistischen Deutschland wurden etwa 5,6 bis 6,3 Millionen als Juden bezeichnete Menschen im Rahmen eines industriell organisierten Massenmordes getötet. Die physische Vernichtung so vieler menschlicher Individuen durch andere Menschen ist sicherlich ein komplexer historischer Vorgang, der sich aus vielen kleinen Informationen zusammensetzt. Ist es deshalb ein subjektives Weltbild an die Realität des Holocaust zu glauben? Ist es faschistoid dies als eine allgemeingültige Wahrheit in der Bevölkerung verankern zu wollen? Ich glaube nicht. Beziehungsweise: Nein.

Ich möchte in keinster Weise nahelegen, dass Dä dies oder etwas ähnliches in seinem Text sagen wollte. Ich will aber aufzeigen, wohin seine Theorie führt wenn mensch sie auf ein Extrembeispiel überträgt und zu Ende denkt.

Der Deutungskampf um die Realität des Holocausts ist dabei ein hochaktuelles Beispiel. Es liegt im Wesen der antisemitischen Ideologie, den Holocaust zu relativieren und/oder zu leugnen, weil sie letztlich darauf abzielt, ihn zu wiederholen. Die Leugnung des Holocausts ist daher kein legitimes subjektives Weltbild, sondern eine zu bekämpfende gefährliche Ideologie.
Was als wahr angesehen wird ist nicht nur eine philosophische Frage, sondern wirkt auf die vom Menschen gemachte materielle Wirklichkeit zurück. Im Kampf um Wahrheit, Meinung und Ideologie geht es in letzter Instanz um Menschenleben. Ideen deren materiellen Konsequenzen in die Lebensrealität anderer Menschen eingreifen, sind keine subjektiven Privatklamotten.

Weg von dem Extrem zu einem tagesaktuellen Beispiel: In Deutschland erhalten die Beschäftigten gemessen an ihrer Produktivität einen im globalen Vergleich sehr niedrigen Arbeitslohn. Deshalb sind die deutschen Waren vergleichsweise billig, und überschwemmen die Märkte anderer Nationalökonomien. Zum Beispiel Griechenland. Aufgrund der deutschen Warenexporte gegen die sie nicht konkurrieren konnte, hat sich die (kapitalistische) Ökonomie in Griechenland nur schwach entwickeln können. Dies ist nicht der einzige, aber der Hauptgrund dafür, dass der griechische Staat nach der Rettung seiner Banken am Rande des Bankrottes steht. Diese Situation wird von EU, IWF und Weltbank ausgenutzt, um Maßnahmen zu erzwingen, die die soziale Situation großer Teile der griechischen Bevölkerung extrem verschlechtern.
Dies wird in den deutschen Diskursen gerne mit einer angeblichen „Faulheit“ „der“ „Griechen“ erklärt. Dieses Erklärungsmuster bewirkt zweierlei: Einerseits werden die sozialen Angriffe auf die griechischen Bevölkerung gerechtfertigt und deren Abwehrkämpfe delegitimiert. Andererseits wird verschleiert, dass die schlechte Lohnsituation der Arbeitenden in Deutschland Ursache des Problems ist. Die Thematisierung ihrer sozialen Lage wird verhindert, stattdessen werden sie als vermeintlich „fleißige“ Leidtragende dargestellt.
Auch bei dieser Idee handelt es sich also nicht um eine zu akzeptierende subjektive Privatvorstellung. Sondern um eine Ideologie die eine bestimmte Funktion hat: Soziale Angriffe der besitzenden Klasse zu rechtfertigen bzw. zu verschleiern. Sie taucht auch nicht zufällig auf, sondern wird von bestimmten Akteuren lanciert (z.B. der Kanzlerin und der Bild-Zeitung), um eben diese Funktion zu erfüllen. Teil eines politischen Kampfes gegen diese sozialen Angriffe muss es daher sein, diese Ideologie zu demaskieren als das, was sie nun einmal ist: Falsch.

II

Es ist richtig, dass die Wahrheit nicht vom Himmel fällt und nicht nur aus Gewehrläufen kommt. Sie ist (Schuhnähte und ähnlich Konkretes ausgenommen) Teil eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Eine Sache wird aber nicht dadurch richtig, weil alle sie behaupten. Auch der Holocaust ist nicht deshalb real, weil er in Deutschland in den Schulen behandelt wird (auch wenn das sicherlich viel dazu beiträgt, dass er als wahr gilt). Er ist deshalb wahr, weil es (noch) Zeitzeugen und vor allem eine ganze Menge an wissenschaftlichen historischen Texten gibt, die ihn belegen. Diese stützen sich wiederum auf Fakten und Quellen die überprüf- beleg- und diskutierbar sind. Die Texte die den Holocaust zu widerlegen versuchen halten dieser Überprüfung nicht stand. Genauso wenig wie die Aussagen der Kanzlerin wonach die Menschen in Griechenland erheblich früher in Rente gehen als die Menschen in Deutschland. Diese Behauptungen sind Teil von Ideologien: Sie sind belegbar falsch, und erfüllen einen konkreten, herrschaftsförmigen Zweck.

Natürlich verändert sich auch das, was als wissenschaftlich gilt, im Lauf der Jahrhunderte. Ganz sicher hat keine Person oder Personengruppe die Wahrheit für sich gepachtet. Meist nähert sich mensch ihr erst in der Diskussion. Aber eben deshalb ist sie so notwendig.

Ich denke Dä hat mit seiner Beschreibung des Ist-Zustandes völlig Recht. Viele Diskussion in der (radikalen) Linken werden unnötig scharf und polemisch geführt, eigene Standpunkte zu selten überprüft.

Für falsch halte ich es aber, jede Bewertung eines komplexen Gegenstandes als rein subjektiv hinzustellen. Denn damit wird alles irgendwie wahr. Auch jene Ideologien, die den Status Quo aufrecht erhalten oder verschlechtern sollen. Ich denke, wir brauchen einerseits eine vernünftige Diskussionskultur, andererseits aber auch einen entschlossenen Kampf gegen diese Ideologien. Und der darf nicht nur theoretisch sein. Denn irgendwo da draußen ist eben nicht nur „die“ Wahrheit, sondern vor allem eine materielle Realität. Und die muss verändert werden.